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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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zaghaft, dann heftiger. Sie nahmen ihre Gläser und zogen in eine orange-braun gestreifte Hollywoodschaukel aus den fünfziger Jahren um, die Gentilini wie die Gemüsebeete von seinen Vorbesitzern übernommen hatte. Unter einem Vordach aus Plexiglas, zum Getrommel der Wassertropfen, saßen sie nebeneinander, schauten in die Nacht und redeten. Nicht von den großen Strömen, den Hauptverkehrsachsen des Lebens, eher von Randgebieten, Seitenpfaden im jeweiligen Dickicht, ein paar Farbtupfern auf Lichtungen hier und da. Nichts, was schwer wog. Sie vermieden es, Luzie zu erwähnen, überhaupt die ganze Geschichte, alles, was damit zusammenhing, vor allem Antonios gefährliche Hinterlassenschaft.
    Das Telefon klingelte an diesem Abend nicht mehr.
    Zwischendurch berührten sich zufällig ihre Arme, ihre Schenkel, weil das Polster der Hollywoodschaukel in der Mitte durchgesessen war, aber wenn einer von ihnen sich dann vorbeugte und nach dem Weinglas griff und danach wieder zurücklehnte, gab es erneut Luft zwischen ihnen, und das war gut so. Luft zum Atmen. Luft zum Alleinsein zu zweit. Sonja entspannte sich nach und nach. Irgendwann sackte ihr Kopf auf Gentilinis Schulter, und sie schlief ein.

29
    Als sie aufwachte, lag sie unter einer wärmenden Decke, immer noch auf der Hollywoodschaukel. Es wurde langsam hell. Die Vögel zwitscherten um die Wette, die Geräusche der Stadt waren hier oben kaum zu hören. Kurz darauf tauchte Gentilini, in Joggingoutfit, mit einem Espresso und ein paar Keksen auf der Terrasse auf, um sie zu wecken. Alles ganz selbstverständlich. Als Gentilini lächelnd sagte, er würde jetzt zu seiner morgendlichen Fitnessrunde ausschwärmen, und sie solle sich wie zu Hause fühlen, fühlte sie sich tatsächlich so – geborgen, erholt, vertraut. Sie sah ihm nach, wie er auf die Wendeltreppe zuging, und dachte, dass er selbst in Jogginghose verdammt gut aussah.
    Aber keine fünf Minuten später stand sie sofort wieder unter Strom. Immer noch keine Nachricht von Luzie. Sonja wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Sie war am Rand der Welt angelangt, am Rand ihrer Welt, ihrem ganz persönlichen Tellerrand, der eine Sackgasse zu sein schien, eine Endlosschleife, man lief immer im Kreis und kam keinen Schritt voran. Die Nacht, der Regen und der Wein hatten dieses Gefühl verwischt, aber die Sonne zerrte alles wieder ans Licht: Luzie war in Gefahr, und Sonja konnte ihr nicht helfen, wusste nicht einmal, wo ihre Tochter war. Es machte sie wahnsinnig. Niemand weckte sie auf, niemand sagte: Guten Morgen, schlecht geschlafen? Alles nur ein Traum … Nein, kein Traum war herabgefallen. Sie befand sich in Neapel, und alles war real und schrecklich.
    Der Commissario hatte den Computer eingeschaltet, damit sie ihre E-Mails checken konnte. Neunzig Prozent Junk von billigem Viagra bis zu Zahlungsmahnungen nicht existenter Bankinstitute, der Rest private Mitteilungen, die hier und jetzt nicht von Belang waren. Bis Gentilini zurückkam, strich sie unruhig durch die Wohnung. Es gab nichts, was sie tun konnte. Das schmutzige Geschirr vom Abend zuvor stand noch in der Küche. Nein, als emsige Hausfrau wollte sie sich auf keinen Fall profilieren.
    Nachdem Gentilini geduscht und sich angezogen hatte, begleitete er Sonja noch ein Stück auf ihrem Weg zum Hotel. Es musste die halbe Nacht geregnet haben – jetzt waren nur noch vereinzelt Pfützen auf den Straßen zu sehen, an einigen Stellen dampfte der Asphalt, der Himmel über den Quartieri Spagnoli war wieder wolkenlos. Es war noch kühl, aber die Hitze, die der Tag bringen würde, wartete schon als unsichtbares Glimmen und Flirren in der Luft. Als Sonja den Namen der Gasse entdeckte, in der sie neben dem Commissario bergab lief, musste sie wider Willen lachen: Gradoni di Chiaia. In der Via Chiaia angekommen, zeigte sie ihm den Namenszug über dem Schaufenster des Hutgeschäfts schräg gegenüber: Di Napoli …
    Er versprach, sie anzurufen, sobald es Neuigkeiten gab.
    »Versprochen?«
    »Versprochen.«
    Kurz vor acht verlangte sie an der Rezeption ihren Zimmerschlüssel. Sie fuhr mit dem Lift hoch in den fünften Stock, warf ihre benutzten Kleider auf das unbenutzte blau-gelb gestreifte Bett, ging unter die Dusche, zog sich an, trat auf den Balkon, um wenigstens einen kurzen Blick auf das Meer mit den Silhouetten der Inseln im Hintergrund zu werfen. Eine Minute lang könnte sie die wunderschöne Aussicht genießen.
    Sie hielt es nicht einmal eine Minute lang aus. Der

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