Die Toten von Santa Lucia
sagte Claudia, obwohl Sonja protestierte. »Und ein Glas Wasser.«
»Fühlt Luzie sich in Neapel wohl?«, tastete Sonja sich vorsichtig weiter.
»Wohl fühlen ist gar kein Ausdruck! Sie ist hin und weg, genau wie ich. Neapel ist doch toll! Chaotisch, bunt, laut, lebendig, die Männer sind süß … Nicht wahr, Gigino?«
»Che hai detto?«
»Dass die Neapolitaner süß sind.«
»Millegrazie …«
Unterbrochen von allerlei Gefrotzel mit Gigino erfuhr Sonja nach und nach, dass Claudia und Luzie sich in der Pension Napule bei der Piazza Mercato kennen gelernt hatten, in der sie am Anfang mit zwei Amerikanerinnen ein Zimmer teilten. In der ersten Zeit hatten sie viel gemeinsam unternommen, hatten die Museen abgeklappert, waren in Pompeji und in Cuma gewesen und mit der Circumvesuviana um die halbe Bucht von Neapel gefahren. Der Vesuv hatte es Luzie offenbar besonders angetan. Und natürlich die Inseln, Capri, Procida. Nachts hatten sie alle möglichen Discos unsicher gemacht, vormittags liefen die Sprachkurse, zweimal in der Woche auch nachmittags. Irgendwann hatte Luzie diesen Typen kennen gelernt.
»Libero«, sagte Claudia lachend, »süßer Name, aber so frei kam der mir gar nicht vor. Er hat noch bei seinen Eltern gewohnt, mit achtundzwanzig, also echt …« Sie strich sich die Haare aus der Stirn. Offenbar las sie keine Zeitung und wusste daher nicht, dass Libero Zazzera tot war. »Aber na ja, auch in Neapel sind Männer Geschmackssache, stimmt doch, oder, Gigino?«
»Che cosa?«, fragte Gigino mit liebenswürdigem Lächeln.
»Ich habe gerade gesagt, dass junge Leute in Neapel viel länger zu Hause bei den Eltern wohnen«, sagte Claudia.
»Certo«, Gigino machte eine entsprechende Handbewegung. »Wovon sollen sie denn auch die Miete zahlen, he? Und wo gibt es hier billige Wohnungen?«
Von hinten drängte jetzt ein ganzer Pulk in allen möglichen Sprachen schwatzender junger Leute in die Bar. Die Vormittagskurse waren vorbei. Sonja und Claudia räumten den Platz an der Theke und quetschten sich neben den Kühlschrank, in dem Cola, Sprite und sonstige Einwegflaschen standen.
»Und was für ein Typ ist dieser Libero?«, fragte Sonja weiter.
Claudia zuckte die Achseln. »Ganz okay. Sieht gut aus. Nicht mein Fall, aber egal, ich kenn ihn ja kaum. Seit er aufgetaucht ist, haben Luzie und ich uns eigentlich nur noch im Unterricht gesehen. Wie so was eben läuft. Luzie war ständig mit ihm zusammen und hat ziemlich bald diese Wohnung aufgetan.« Sie schnippte mit den Fingern. »Na klar! Da finden Sie sie bestimmt! Vielleicht hat sie eine Erkältung, und Libero pflegt sie. Aber ich habe die Adresse nicht. Fragen Sie mal bei Renata nach, das ist die Sekretärin.«
»Schon abgehakt«, sagte Sonja. »Luzie wohnt nicht mehr dort.«
»Nicht? Sind Sie sicher? Das war ja ein kurzes Vergnügen.« Claudia runzelte die Stirn. »Dann war dieser Typ wahrscheinlich doch nicht in Ordnung. Habe ich ihr gleich gesagt …«
»Welcher Typ?«, drängte Sonja. »Libero? Du hast doch gerade …«
»Nein, nicht Libero. Ich meine diesen anderen Kerl, der ihr die Wohnung vermietet hat. Der war mindestens doppelt so alt wie wir. Hätte locker Luzies Vater sein können.« Sie verzog den Mund. »Pardon, war ein schlechter Witz.«
»Erinnerst du dich an seinen Namen?«, fragte Sonja aufgeregt.
»Ich glaube, er hieß« – sie legte die Stirn in Falten, kniff die Augen zusammen – »wie der spanische Dik … Genau: Franco. Franco Fusco.«
»Franco Fusco?«
»Ja, genau.«
»Woher kannte sie ihn?«
»Weiß ich auch nicht. Sie hat sich, glaube ich, ein paarmal mit ihm getroffen. Einmal hat er sie vom Unterricht abgeholt.« Claudia hielt inne, hob entschuldigend die Hände. »Nicht, was Sie jetzt denken. Er wollte nichts von ihr – hat Luzie jedenfalls gesagt. Das hätte sie nie mitgemacht.« Sie lachte. »Luzie doch nicht!«
Obwohl Sonja nicht danach zumute war, musste sie lächeln. Nein, Luzie doch nicht … Wenigstens das hatte sie ihr mitgegeben: das Neinsagen … In dem Moment fiel ihr siedend heiß ein, dass sie Gentilini und Fusco um zwölf im Gambrinus hätte treffen sollen. Sie sah auf ihre Uhr. Zwanzig vor eins. Mist!
Sie entschuldigte sich bei Claudia und wählte Gentilinis Handynummer. Er meldete sich sofort. Seine Stimme klang bitterböse.
»Ich stehe seit über einer halben Stunde hier und warte. Auf dich und auf Fusco«
Sonja entschuldigte sich. »Es gibt eine Spur zu Luzie.«
»Und?«
»Ich bin noch
Weitere Kostenlose Bücher