Die Toten von Santa Lucia
wurde.
»Signora?«
»Sì?«
»Claudia sitzt gerade im Kurs, der findet im Haus nebenan statt. Wenn Sie mit ihr sprechen wollen, kommen Sie am besten persönlich vorbei. Sprachenschule Italia uno. Zweiter Stock.« Dann nannte sie eine Adresse in der Nähe der Piazza Garibaldi.
Sonja sah auf ihrem Stadtplan nach. Es war nicht weit, höchstens eine Viertelstunde – aber dann bog sie mehrmals falsch ab und kam plötzlich an einer ganz anderen Querachse heraus, als sie gedacht hatte. Wieder musste sie den Stadtplan zu Hilfe nehmen und sich den Weg durch die mit Waren, Leuten und Fahrzeugen jeglicher Art vollgestopften Gassen bahnen. Heute ließen die tausenderlei Sinneseindrücke Neapels, die sie noch vor zwei Tagen in ihren Bann gezogen hatten, sie kalt. Sie hatte es eilig. Sie wollte diese Claudia auf keinen Fall verpassen.
Als sie die Adresse endlich gefunden hatte, war es kurz nach elf. Sie stieg ein dunkles, muffig riechendes Treppenhaus hoch. Die Unterrichts räume der Sprachenschule befanden sich im zweiten Stock eines altehrwürdigen, aber von Smog und Zeit angenagten Palazzos. An einer Wand des Vorraums waren Stühle gestapelt, in der Ecke standen zwei Flipcharts ohne Papier. Sonja öffnete aufs Geratewohl die erste von vier Türen, hinter denen sich die Kursräume befinden mussten, und fragte nach einer Deutschen namens Claudia. Bei der dritten Tür wurde sie fündig. Der Unterricht würde noch eine halbe Stunde dauern, aber die junge Frau, die bei Signora Russo für Sonja angerufen hatte, packte gleich ihre Sachen zusammen.
Claudia war ungefähr in Luzies Alter und kam aus Berlin. Sie redete genauso unbekümmert drauflos, wie sie die Straßen überquerte: ohne nach rechts oder links zu schauen, ganz auf sich konzentriert – wie Luzie, dachte Sonja und spürte eine Welle von Zuneigung, doch in deren Gefolge schwappten zugleich Wehmut und Sorge mit. Claudia war seit zwei Monaten in Neapel und hatte eine Zeit lang mit Luzie in einem Zimmer gewohnt. Bei einem Tagesausflug nach Capri hatte sie auf der Fähre zufällig Tuula und Anna kennen gelernt. Als die beiden Finninnen hörten, dass sie Deutsche war, hatten sie gefragt, ob sie zufällig eine andere Deutsche namens Luzie kenne. Dann hatten sie ihr die von Sonja notierte Nummer gegeben.
Sie gingen in eine Bar zwei Straßen weiter. »Luzie ist auch immer hier gewesen«, sagte Claudia und bestellte einen Eistee.
Sonja trank nur ein Glas Wasser. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz poche nicht mehr in ihrer Brust, sondern unmittelbar hinter den Schläfen.
»Nach dem Unterricht treffen wir uns immer hier, wir sind ja alle in verschiedenen Kursen. Aber was ist los? Wo ist Luzie überhaupt? Seit mindestens einer Woche habe ich sie nirgends gesehen. Ist sie krank?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Sonja, von dieser Antwort ernüchtert und entmutigt. »Ich dachte, Sie könnten mir das vielleicht sagen.«
Claudia wandte sich an den schlaksigen jungen Mann hinter der Theke. »Gigino, hai visto Lucia?«
»Io?« Der Mann namens Gigino zwinkerte ihr zu. »Ist sie deine Freundin oder meine?«
Sonja erzählte zum wiederholten Male die abgespeckte Version der Geschichte. Allerdings ohne einen einzigen Toten.
Claudia war ehrlich überrascht. Luzie hatte mit keinem Wort erwähnt, dass sie in Neapel nach ihrem Vater suchte.
»Ich hätte ihr sofort dabei geholfen. Das ist doch spannend! Ich liebe Detektivgeschichten!«, rief sie aufgeregt.
»Wow, dann ist Luzie ja halbe Neapolitanerin! Na klar, die dunklen Augen …«
»Kann sie denn inzwischen ein bisschen Italienisch?«, fragte Sonja.
»Sogar ziemlich gut. Das hat sie irgendwie im Blut, haben wir immer gesagt, und jetzt ist mir auch klar, weshalb sie dann immer so viel sagend gegrinst hat …«
Ziemlich gut, dachte Sonja stolz und verzweifelt zugleich. Also hat Luzie das Manuskript gelesen. Sie weiß alles.
Sonja schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Von fern tauchte ein Nein auf. Sie griff danach. Ein Rettungsring. Etwas lesen zu können hieß noch lange nicht, es auch zu verstehen. Wie lange hatte sie damals selbst gebraucht, bis sie sich einigermaßen in italienischen Tageszeitungen zurechtfand, bis sie die vielen unbekannten Abkürzungen kannte, die ständig wechselnden Namen zuordnen konnte, die Anspielungen verstand. Luzie weiß nichts, dachte sie, und öffnete die Augen wieder.
»Ist Ihnen nicht gut?«
»Doch, doch, danke, geht schon wieder.«
»Gigino, bitte einen Espresso für die Signora!«,
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