Die Toten von Santa Lucia
Hafengelände hinter sich gelassen hatten, begriff Sonja, was passiert war. Jemand hatte auf sie geschossen. Jemand hatte es auf Luzies Reisetasche abgesehen. Luzie war wohlbehalten gelandet, aber nichts war ausgestanden, gar nichts. Im Gegenteil, es sah ganz so aus, als würde die Jagd auf diese verfluchten Unterlagen jetzt erst richtig beginnen. Als hätte irgendwer die ganze Zeit nur darauf gewartet, dass Luzie wieder auftauchte.
»Was ist denn nur los?« Luzie saß neben ihr auf dem Rücksitz. Der Schreck war ihr sichtlich in die Glieder gefahren, trotz ihrer Sonnenbräune sah sie sehr blass aus. »Wer ist dieser Mann?«, stammelte sie aufgeregt. »Und warum bist du in Neapel? Was wollt ihr alle von mir? Wieso ist Libero tot? Ich verstehe das alles nicht, Mama, bitte, sag mir, was los ist!«
Sonja legte den Arm um sie und zog sie an sich. So viele Fragen auf einmal. Wo sollte sie überhaupt beginnen?
»Frag sie, ob das Manuskript in ihrem Gepäck ist«, sagte Gentilini vom Fahrersitz. Seine Stimme klang hart und wütend.
»Wer war das, Gennaro? Wer hat auf uns geschossen?«
»Frag sie!«, bellte er.
»Luzie, ist das Manuskript in deiner Reisetasche?«, fragte Sonja auf Deutsch.
»Welches Manuskript?«, fragte Luzie.
»Der braune Umschlag, den du auf dem Dachboden gefunden hast.«
Luzie schüttelte ihren Arm ab und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Dabei nickte sie wortlos. Dann schrie sie plötzlich: »Was haben nur alle mit diesem Scheißmanuskript? Libero ist auch völlig ausgeflippt, als er es gelesen hatte! Was ist damit los? Was steht da drin?« Ihre Stimme überschlug sich, das Schreien wurde zu einem lauten Schluchzen, das sich anhörte wie das Heulen eines Tieres, das den Fuß im Fangeisen hat.
Sonja schluchzte. »Was drinsteht, wissen wir auch nicht«, sagte sie, als Luzie sich ein bisschen beruhigt hatte. »Vermutlich die Namen von Leuten, die im Zusammenhang mit diversen Verbrechen stehen, die vor vielen, vielen Jahren begangen wurden. Und diesen Leuten gefällt es gar nicht, dass das alles plötzlich wieder aufgetaucht ist, einschlägige Beweise inklusive. Es ist so, dass … Antonio … Also, dein Vater hat das alles damals offenbar recherchiert und aufgeschrieben und zu uns nach Hamburg geschickt … Er war Journalist und …« Sie unterbrach sich. »Wer hat auf uns geschossen, Gennaro?«
»Profis«, sagte Gentilini grimmig. »Die den Auftrag hatten, die Tasche in ihre Gewalt zu bringen. Offensichtlich hatten sie es nicht auf Luzie abgesehen, sonst würden wir jetzt nicht hier sitzen. Ein Toter mehr spielt bei solchen Leuten keine Rolle. Wir haben Glück gehabt. Pures Glück.«
Alle schwiegen einen Moment lang. Gentilini hatte ausgesprochen, was jeder von ihnen gespürt, aber nicht zu denken gewagt hatte. Glück. So konnte man es auch nennen.
»Jetzt verstehe ich alles«, sagte Luzie nach einer Weile mit tonloser Stimme. »Libero hat es also gewusst. Libero hat das Zeug gelesen. Aber er hat immer so getan, als ob das überhaupt nicht wichtig wäre, nur etwas für echte Neapolitaner, hat er gesagt, und jetzt ist er tot! Wieso ist er tot? Wieso?« Sie fing wieder heftig an zu weinen.
Gentilini kramte in der Ablage und fand ein Päckchen Papiertaschentücher.
»Grazie.«
»Niente.«
Luzie lächelte unter den Tränen.
»War Libero dein Freund?«, fragte Sonja sanft.
Luzie nickte. »Ja, das heißt …« Sie zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht genau, ob ich mehr in ihn verliebt war oder in Neapel oder beides.« Ihre Stimme festigte sich. »Ich war doch so neugierig. Auf Neapel, auf alles, du weißt, wie neugierig ich bin. Ich hab den Sprachkurs angefangen und konnte mich relativ schnell auf Italienisch verständigen, aber Zeitunglesen klappte noch nicht so richtig. Natürlich wollte ich wissen, was in diesen Unterlagen steht, es war ja schließlich irgendwie mein Umschlag. Ich hatte ihn gefunden, und ich dachte auch, die Post wäre in Wirklichkeit an mich adressiert, ich sollte das alles lesen, wenn ich groß bin, damit ich meinen Vater finden kann. Zwischendurch habe ich Libero getroffen, er kennt … er kannte sich in Neapel gut aus und hat mir alles Mögliche gezeigt, die Katakomben von San Gennaro und die Kapelle des Principe di San Severo und … Egal. Irgendwann habe ich ihm erzählt, dass ich meinen Vater suche. Und dann habe ich Libero dieses Manuskript gezeigt, damit er es liest und mir sagt, was drinsteht. Und er hat dann gesagt, nichts Besonderes,
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