Die Toten von Santa Lucia
den Kai und hielt direkt neben Sonja. »È Lei la Signora Dsorne?«
Der Polizeibeamte brachte sie zur Questura, wo Gentilini am Eingang auf sie wartete. Sie fuhren kurz hoch in sein Büro, dann zu ihm nach Hause. Eine Stunde später saß Sonja auf der Hollywoodschaukel und konnte es immer noch nicht fassen. Ihre Vermutung mit Stromboli war richtig gewesen, ein Volltreffer – und zugleich eine Niete, denn beinahe wären sie und ihre Tochter mitten in der Nacht auf dem Mittelmeer aneinander vorbeigefahren.
Luzie hatte offenbar nach der Besteigung des Vulkans in einer mehrere Tage alten Zeitung vom Tod von Libero Zazzera gelesen und war daraufhin zur kleinen Polizeistation auf Stromboli gegangen. Die Beamten hatten in Neapel angerufen und waren nach mehreren Fehlverbindungen schließlich bei Gentilini gelandet. Gentilini wiederum hatte den Ernst der Lage erklärt und dafür gesorgt, dass einer der Beamten Luzie auf der Nachtfähre zurück nach Neapel begleitete. Morgen früh würden sie ankommen. Die Geschichte hatte in kurzer Zeit eine neue Wendung bekommen. Die Suche nach Luzie wenigstens war vorbei.
Gentilini hatte Sonja unter diesen Bedingungen nicht in irgendeinem Hotel unterbringen wollen und sie kurz entschlossen bei sich zu Hause einquartiert. Das Wochenende mit den Kindern hatte er kurzfristig und mit der üblichen Begründung abgesagt. Seine Exfrau war im Fünfeck gesprungen, seine Tochter hatte sich gefreut, sein Sohn hingegen hatte wortlos den Hörer aufgeknallt. Gentilini kannte diese Reaktionen, die Situation war für alle Beteiligten nichts Neues. Er konnte es nicht ändern. Es war nun mal sein verdammter Beruf. Unter anderen Umständen hätte er sich vielleicht nicht ganz so bereitwillig ins Zeug gelegt, sprich, wenn es nicht auch um Sonja gegangen wäre.
Neben dem kleinen Tisch auf der Terrasse standen in einem mit Eiswürfeln gefüllten Eimer mehrere Flaschen Peroni-Bier. Sonja hatte ihr Glas in einem Zug geleert. Gentilini schenkte nach. Auch ihm war die Anspannung der letzten Tage anzusehen. Er hatte per Telefon Pizza bestellt.
Sicherlich, die Suche nach Luzie war zu Ende, aber die zentrale Frage lautete nach wie vor, ob Luzie den braunen Umschlag mit dem Manuskript bei sich hatte oder nicht. Wenn ja, dann war höchste Vorsicht geboten. Dann mussten die Informationen ausgewertet werden, und bei all dem konnte der Commissario die Anwesenheit seiner halbwüchsigen Kinder wahrlich nicht gebrauchen. Wenn nein, dann hieß das vorläufig Entwarnung. Dann waren die so begehrten, geheimnisvollen, offenbar belastenden Unterlagen, für die mindestens zwei Leute ihr Leben gelassen hatten und von denen noch immer keiner wusste, was eigentlich genau drinstand, vermutlich auf Nimmerwiedersehen verschwunden – und vielleicht bei denjenigen gelandet, die sie belasteten, vielleicht aber auch in den Händen Dritter, die wer weiß was damit anstellen würden. Reine Spekulation. Aber immerhin wären Luzie und Sonja dann aus dem Spiel.
Der Commissario berichtete Sonja, was er von Striano in Erfahrung gebracht hatte. Da war zum einen die Verbindung zwischen Franco Fusco und Gaetano Fusco, die an sich noch nichts weiter bedeutete. Wäre da nicht diese zweite Verbindung zwischen dem Mordfall von damals und dem von heute aufgetaucht: Franco Fusco war ein enger Freund von Antonio Di Napoli gewesen …
»Franco?«, rief Sonja und sprang auf. »Dieser Franco? Der mit in Venedig war? Er heißt auch Fusco? Ich meine, er ist identisch mit dem Vermieter?« Sie packte Gentilinis Arm. »Aber … wieso hat Luzie mit ihm Verbindung aufgenommen? Woher wusste Luzie die Namen von Antonios damaligen Freunden?«
Gentilini zuckte die Achseln. Diese Frage konnten sie vorläufig noch nicht beantworten.
»Fusco ist zusammen mit Antonio Di Napoli zur Schule gegangen. Sie waren offenbar sehr eng befreundet. Sie haben auch gemeinsam Politologie studiert. Als ich das von Striano hörte«, fuhr Gentilini fort, »habe ich mir nochmal die Akte von damals vorgenommen, aber kein einziges Vernehmungsprotokoll mit Antonios bestem Freund und Studienkollegen Fusco finden können. Das ist seltsam, denn alle anderen engen Freunde von Antonio wurden befragt: Sergio Galeazzo und Gianluca Morra …«
»… die waren beide in Venedig mit dabei«, sagte Sonja.
»Der Angelladenbesitzer, Antonios WG-Kumpane, seine Kollegen, alle haben ihre Mutmaßungen zu den Hintergründen des Mordes geäußert. Nur einer nicht: Franco Fusco. Wenn ich nicht schon
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