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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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versucht hatte, ihren Vater ausfindig zu machen. Vor allem über Antonio wollte Luzie alles wissen, und Sonja erzählte von Venedig und von Antonios Besuch in Hamburg und von ihrer Begegnung mit Vittorio, seinem Bruder. Es gab so vieles, was sie nicht voneinander wussten. Und auch manches, was sie sich nicht erzählten.
    »Ich bin in Neapel durch die Straßen gelaufen und habe mir die Männer in seinem Alter angesehen und gedacht: der da sieht okay aus, der könnte es sein, oder: der da nicht, bloß nicht, bitte nicht!«, sagte Luzie. »Als ich klein war, habe ich mir eine Zeit lang meine Traumväter zusammengemixt, eine Prise von dem und eine Prise von dem …«
    »Das hast du mir nie erzählt …«, sagte Sonja.
    »Warum auch?«
    »Weil … Ja, warum auch«, wiederholte Sonja hilflos. Hätte sie früher nach Antonio gesucht, wenn sie die Sehnsucht ihrer Tochter nach einem greifbaren Vater ernst genommen hätte? Die Antwort lautet eindeutig: nein.
    »Mein Traumvater war anders als die Väter meiner Freundinnen, nicht streng und nicht cholerisch. Er saß nicht am Wochenende vor der Sportschau und hat mich nie gefragt, ob ich die Hausaufgaben gemacht habe. Er war Filmschauspieler oder Tennistrainer, Arzt in Indien, Huskyzüchter, Hoteldetektiv, Antarktisforscher, Barkeeper, je nachdem. Vom Meerkönig bis zum Popstar war alles vertreten. Meine absolute Lieblingsfigur war der Kapitän auf einem großen Schiff namens Neapel, das mit Träumen handelte«, sagte Luzie lächelnd.
    »Ein aussichtsreiches Geschäft«, grinste Sonja.
    »Er musste nur die Träume im richtigen Moment an den richtigen Ort transportieren, und das geschah auf diesem riesigen Schiff. Man konnte einen Traum gegen einen anderen eintauschen: Träume von Eisbergen gegen Träume von Kokospalmen, Träume von Heringsschwärmen gegen Träume von Bananenstauden … Mein Vater war der Kapitän, ohne ihn ging gar nichts, und als Lohn durfte er den schönsten Traum für sich behalten, und welcher das war, wusste immer nur ich allein.« Luzies Blick wurde traurig. »Schade, dass ich ihn nicht mehr kennen lernen kann, nicht den Traumvater, sondern meinen wirklichen Vater.«
    »Du kannst die Artikel lesen, die er geschrieben hat. Vittorio, dein Onkel, hat sie alle gesammelt. Außerdem gibt es ein dickes Fotoalbum. Du hast jetzt auch eine Tante in Florenz und zwei, nein drei Cousins und eine echt neapolitanische Großmutter …«
    In dem Moment tauchten die beiden Männer auf dem Balkon auf.

35
    »Und, wie viel Dynamit habe ich hoch auf den Stromboli geschleppt?«, fragte Luzie. Auch wenn es mit der Grammatik noch haperte, konnte sie inzwischen trotzdem eine Menge auf Italienisch ausdrücken.
    Gentilini lächelte. »Eine ganze Menge, aber die Ladung war schon entschärft.«
    Luzie kniff die Augen zusammen. »Was soll das heißen?«
    »Die Unterlagen sind zwanzig Jahre alt. Damals waren sie hochbrisant.«
    »Inzwischen hat aber der Zahn der Zeit daran genagt, wie an den Keksen«, ergänzte Striano und verzog das Gesicht.
    »Jetzt mal im Ernst«, drängelte Sonja. »Was steht in dem Manuskript? Was habt ihr rausgefunden?«
    »Viele der Personen, die in den Unterlagen belastet werden, sind längst tot«, sagte Striano. »Einige wurden erschossen, einer stürzte mit dem Auto ins Meer, einige starben im Bett, andere im Krankenhaus.«
    »Und der Rest sitzt seit Jahren im Gefängnis«, ergänzte Gentilini. »Bis auf ganz wenige Ausnahmen.«
    »Lasst mich raten – einer davon ist der alte Fusco?«, fragte Sonja.
    Beide Männer nickten.
    Antonio Di Napoli hatte die von ihm recherchierten Informationen über einen Zeitraum von fünf Jahren akribisch zusammengetragen und dokumentiert. Die große Klammer waren die Abermilliarden Lire, die nach dem Erdbeben von 1980 nach Neapel und in die Region Kampanien geflossen waren. Di Napoli hatte alles herausgefunden: An wen die Gelder jeweils adressiert waren, wo sie angekommen waren, wofür sie angeblich und wofür sie tatsächlich eingesetzt wurden. Er hatte Namen von Firmen und Firmenbesitzern notiert, Scheinfirmen mit Sitz in Norditalien aufgedeckt. Er hatte penibel aufgelistet, was die Gerüste kosteten, mit denen die erdbebengeschädigten Häuser in den Gassen vieler Viertel abgestützt wurden, er wusste, wem die Container gehörten, in denen die Erdbebenopfer über Jahre wohnten, ohne dass ihre Häuser jemals instand gesetzt wurden und ohne dass man ihnen neue Unterkünfte angeboten hatte; er kannte die Namen der Hausbesitzer,

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