Die Toten von Santa Lucia
stutzig gewesen wäre, hätte mich das stutzig gemacht. Daraufhin habe ich Striano ein zweites Mal angerufen. Er war damals mit dem Fall Di Napoli betraut und konnte sich daran erinnern, dass es definitiv eine Vernehmung von Franco Fusco gegeben hatte. Er wusste auch noch den Namen des Kollegen, der damals mit Fusco gesprochen hatte. Wie der Zufall es wollte, war er ein paar Wochen nach der Vernehmung auf dem Weg nach Hause eine Böschung hinuntergefahren. Die Bremsen hatten versagt. Der Mann ist tot. Von all dem stand nichts in den Akten. Kein Sterbenswörtchen. Striano hat sich außerdem …«
Es klingelte an der Tür. Zwei Minuten später war Gentilini wieder da: mit zwei Pizzaschachteln und einer Plastiktüte, in der vier weitere Halbliterflaschen Peroni steckten. Sie aßen die Pizza aus der Hand und tranken das Bier aus der Flasche. Die Schildkröte Arturo machte sich über ein Stückchen Teig her, das zu Boden gefallen war.
»Striano hatte schon immer ein exzellentes Gedächtnis«, nahm Gentilini den Gesprächsfaden wieder auf. »Er hat sich daran erinnert, dass in den späten achtziger Jahren in der Nähe von Bari ein Mann namens Tullio Barbasciuta verhaftet wurde, ein Auftragskiller, der im Verlauf der Vernehmungen mehrere Morde gestand, darunter auch den an Di Napoli. Ihm wurde noch in der Untersuchungshaft die Kehle durchgeschnitten. Natürlich bevor er sich über die Auftraggeber verbreiten konnte. Und was meinst du – gab es in der Akte irgendeinen Hinweis auf diese Geschichte?«
Sonja schüttelte den Kopf.
»Nichts«, sagte Gentilini grimmig. »Kein einziges Protokoll, keinen Hinweis darauf, nichts! Da hat jemand sehr weiträumig manipuliert und Dokumente verschwinden lassen. Striano ist derselben Ansicht. Mit dem Unterschied, dass er sich schon von all dem verabschiedet hat. Vor vier Jahren hatte er einen Herzinfarkt, danach musste er lernen, sich nicht mehr über jeden Dreck aufzuregen!
Ich habe die ganze Akte Di Napoli noch einmal durchforstet. Die Aussagen der Putzfrau, die Aussagen des Fischers, die des später ermordeten Taxifahrers, die der anderen Passanten. Immer ist die Rede von diesem zweiten Mann am Tatort, der sich in Luft aufgelöst hat und nie gefunden wurde.« Der Commissario setzte die Bierflasche an und nahm einen langen Zug.
»Franco Fusco«, sagte Sonja.
»Woher weißt du das?«, grinste Gentilini.
»Weibliche Intuition.« Verschmitzt ergänzte Sonja: »Aber auch die hat Lücken. Ich verstehe immer noch nicht, wie das alles zusammenhängt.«
»Ich auch nicht. Aber wenn es da keinen Zusammenhang gibt, hänge ich meinen Beruf an den Nagel«, sagte Gentilini. Dann fügte er eine Spur kleinlauter hinzu: »Und wenn es einen gibt, vermutlich auch.«
»Wieso? Was willst du damit sagen?«
»Möglicherweise ist der Fall auch für mich eine Nummer zu groß. Hängt ganz davon ab, wer noch alles darin verwickelt ist. Ob es nur die Sippschaft Fusco ist, was ich bezweifle. Antonio Di Napoli jedenfalls hat die Sache schon vor zwanzig Jahren nicht überlebt. Libero Zazzera hat es auch heute noch erwischt.« Er sah sie zerknirscht an. »Ich bekämpfe das organisierte Verbrechen in dieser Stadt, seit ich bei der Kriminalpolizei bin. Ich bin ein relativ kleiner Fisch, und ich bin relativ erfolglos. Aber ich kann nicht alles aufs Spiel setzen. Ich hänge an meinem Leben. Ich hänge schon lange nicht mehr an meinem Beruf, aber ich hänge definitiv an meinem Leben.«
»Soll das heißen, du lässt die Sache fallen?« Sonja starrte ihn entgeistert an. Einen Moment lang dachte sie, wenn er jetzt »ja« sagte, würde sie ihn ohrfeigen. Stattdessen ging sie auf ihn zu, stellte sich ganz nah vor ihn hin, hob die Hand und streichelte ihm zärtlich über die Wange. »Nein«, sagte sie und schüttelte langsam den Kopf. »Das wirst du nicht. Du kannst es gar nicht.«
Als ihre Blicke sich begegneten, spürte sie etwas, was sie seit langer Zeit nicht mehr empfunden hatte. Den kurzen Moment der Verunsicherung, wenn man ein Floß betrat, das wie ein Floß schwankte. Das Glücksgefühl, wenn man an einer taufrischen Rose roch, die wie eine Rose duftete und wie eine Rose stechen und verletzen konnte. Die Angst vor dem Sprung, der nicht im kalten Wasser endete und nicht auf weichen Federn.
Beide traten sie einen Schritt zurück, sahen sich erschrocken an.
33
Das Schiff sollte am Samstag früh um kurz nach sechs an der Stazione Marittima eintreffen. Als Sonja und Gentilini zum Hafen fuhren, war es schon
Weitere Kostenlose Bücher