Die Toten von Santa Lucia
die Geld für Reparaturen eingestrichen hatten, die faktisch nie ausgeführt wurden, die Namen der Firmen, die Geld für umfangreiche Bauarbeiten kassierten, die nur auf dem Papier stattgefunden hatten, die Namen diverser drahtziehender Camorrabosse, bestochener Politiker, korrupter Verwaltungsleute. Es war ein Sumpf ohne Ende.
Das Ganze las sich wie eine Generalprobe der Tangentopoli-Prozesse in den frühen Neunzigerjahren. Und Di Napolis Unterlagen verwiesen immer wieder auf den Namen eines unbescholtenen Mannes, dessen weiße Weste im nicht gerade blütenweißen Rechtssystem Neapels beinahe schon als legendär galt: der bekannte und einflussreiche Oberstaatsanwalt Gaetano Fusco. Er hatte offenbar jahrzehntelang eine Art Doppelleben geführt – als wortgewaltiger Verfechter von Demokratie, Recht und Gerechtigkeit einerseits und als klammheimlicher Anwalt und Unrechtsberater zweier Camorraclans. Vor allem in den frühen Achtzigerjahren hatte er wieder und wieder das Recht gebeugt und auch routinemäßig inopportune Beweismittel – wie im Fall Antonio Di Napoli – verschwinden lassen. Im Gegenzug war er offenbar mehr als reich entlohnt worden. Auch das hatte Di Napoli aufgelistet: Nachweise über Geldtransfers zugunsten von Gaetano Fusco beziehungsweise seiner Ehefrau, die Existenz eines Schweizer Bankkontos, den Erwerb von erstklassigen Grundstücken und Wohnungen, für die Fusco einen Spottpreis zahlte. Di Napoli hatte das alles herausgefunden und fein säuberlich dokumentiert. Auf der letzten Seite sprach er von dem Plan, seine Unterlagen in mehreren überregionalen Zeitungen zu veröffentlichen und dass er bereits erste entsprechende Kontakte geknüpft habe.
»Offenbar«, so schloss nun Striano, »hat Di Napoli mit dieser groß angelegten Recherche Fuß in der italienischen Medienwelt fassen wollen. Für seine Cronaca-Berichte bekam er ja nicht mehr als ein lausiges Zeilenhonorar. Aufstieg hieß sein Antrieb. Nur hat er dabei leider den Preis aus den Augen verloren, den er dafür bezahlen musste.«
»Den Preis und die Gefahr«, ergänzte Gentilini.
»Antonio war kein sensationsgeiler Reporter, der notfalls auch über Leichen geht«, protestierte Sonja. »Ich habe mit seinem Bruder gesprochen. Die Wohnung seiner Familie wurde beim Erdbeben zerstört, sie haben jahrelang in einem Containerdorf gewohnt. Antonio hat genau gewusst, wovon er schreibt und wofür er schreibt! Er wollte die Schweinereien aufklären, das war alles!«
Sie spürte, dass sie einen hochroten Kopf bekommen hatte. Hört, hört, dachte sie, ich verteidige Antonio, über den ich im Grunde gar nichts weiß, nur damit er vor meiner Tochter gut dasteht.
»Mag schon sein«, brummte Striano eher unwirsch. »Ist ja auch egal.«
»Nein, das ist ganz und gar nicht egal«, sprang Luzie ihrer Mutter bei.
»Die Frage wird sich vermutlich sowieso nie klären lassen«, sagte Gentilini beschwichtigend. »Aber zur Sache. Es geht um Gaetano Fusco. Nehmen wir einmal an, dass er sich vor zwanzig Jahren so vor diesen Unterlagen gefürchtet hat, dass er Di Napoli ermorden ließ. Wovor fürchtet er sich heute noch so sehr, dass er ein zweites Mal einen Killer losschickt?«
»Er hat in seinem Leben alles erreicht, was ein Mann erreichen kann – vorbildliche Karriere, Einheirat in eine alteingesessene Familie, Villa in Posillipo, Haus auf Capri, Wohnung in Sankt Moritz, und seit zwei Jahren ist er pensioniert. Aber wovor fürchtet er sich dann? Sein scheinbar perfektes Leben hat einen Haken: So ein Mann kann nicht aufhören. Ich weiß, wovon die Rede ist. Ich bin selbst pensioniert. Also hat Fusco nach wie vor Ambitionen«, sagte Striano. »Große Ambitionen. Aus verlässlicher Quelle weiß ich, dass er für die Cristiani Democratici Uniti kandidieren will. Die haben ihn mit offenen Armen empfangen, schließlich gilt er politisch als der Saubermann schlechthin. Selbst wenn Di Napolis Funde Schnee von gestern sind, wäre es sein Ende, wenn diese Unterlagen an die Öffentlichkeit gelangten. Die Enthüllungen würden alles zunichtemachen, was Fusco sich aufgebaut hat. Ich kenne Fusco aus jahrelanger Polizeiarbeit und habe ihn oft vor Gericht erlebt – er ist eiskalt und berechnend. Ein Machtmensch. So einer geht ohne mit der Wimper zu zucken über Leichen.«
»Aber warum hat Antonio diese Unterlagen ausgerechnet an mich geschickt?«, fragte Sonja.
»Bei dir wären die Enthüllungen in Sicherheit gewesen«, sagte Gentilini. »Niemand hätte ausgerechnet im
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