Die Totengräberin - Roman
Ton.«
»In den Sommerferien fahren wir nach Italien. Da haben wir Zeit. Da können wir reden. Und meinetwegen können wir ihn auch fragen, ob er in ein Internat will. Aber ich kann es mir nicht vorstellen.«
Damit war für Johannes die Unterhaltung beendet, und er ging aus der Küche.
Magda war verärgert. Sie hatte das Gefühl, dass Johannes einfach nicht sah oder nicht sehen wollte, dass sie dringend etwas unternehmen mussten, wenn ihnen Thorben nicht ganz entgleiten sollte.
Eines Morgens kam Thorben in die Küche, als Magda gerade Apfelsinen auspresste.
»Ich habe eine Bitte«, sagte er.
Magda zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Mein Sohn spricht! Was für eine Sensation! Ich dachte, du hättest die Sprache verloren.«
Thorben zuckte zusammen. Es hatte alles keinen Zweck. Sie hatte schlechte Laune, er würde es lieber ein anderes Mal versuchen.
»Was für eine Bitte?«, fragte Magda.
»Schon gut. Is schon um die Ecke.«
»Nun sag schon! Was für eine Bitte? Vielleicht kann ich sie ja erfüllen.«
Obwohl er es nicht wollte, sagte Thorben schließlich doch:
»Ich wünsche mir ein Klavier.«
»Was wünschst du dir?« Magda starrte ihn völlig entgeistert an.
»Ein Klavier. Kann auch gebraucht sein. Ganz egal. Bitte, Mama.«
»Thorben, hör mal gut zu. Ich finde es prima, dass du Gitarre spielst. Ich fände es auch prima, wenn du Klavier spielst. Ich habe auch nichts dagegen, dass du Musik hörst. Aber doch nicht nur! Nicht zwanzig Stunden am Tag, mein lieber Freund! Solange deine Schule derart darunter leidet, kann ich das nicht unterstützen. Das verstehst du doch, oder?«
»Nein. Das versteh ich nicht.« Thorbens Augen blitzten vor Zorn, und Magda glaubte eine Spur von Hass darin zu sehen. Aber sie wollte nicht nachgeben.
»Ich kann es auch einfacher ausdrücken: Bring wieder gute Zensuren nach Hause, und du kriegst ein Klavier.«
»Das ist Erpressung.«
»Nein, das ist nur vernünftig. Denn wenn du so weitermachst und dein Abi nicht schaffst, dann verbaust du dir deine ganze Zukunft.«
»Ich scheiße auf das Abi.«
»Siehst du! Und darum kriegst du auch kein Klavier!«
Thorben sagte nichts mehr. Er ging Türen schlagend aus der Küche und schwieg von nun an wieder bei den Mahlzeiten, was Magda wahnsinnig machte.
Vier Wochen später klingelte die Umzugsfirma »Tillmann« an der eigenen Tür.
»Tag, Frau Tillmann«, sagte einer von Johannes’ Mitarbeitern durch die Gegensprechanlage, »wir bringen ein Klavier. Isses recht?«
Natürlich war es ihr nicht recht. Sie war maßlos wütend auf Johannes, aber sagte nur tonlos:
»Bitte, kommen Sie. Dritter Stock.«
»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«, fragte sie Johannes am Abend. »Ich war dagegen, dass er jetzt ein Klavier bekommt.«
»Ich bin dafür.«
»Ich wollte es von seinen Leistungen abhängig machen.«
»Ich nicht.«
»Johannes, was soll das? Warum fällst du mir in den Rücken?«
Johannes ging zu ihr und legte den Arm um sie. »Hast du denn völlig vergessen, wie du dich mit vierzehn, fünfzehn gefühlt hast? In dieser Zeit ist man nur auf der Flucht. Und wenn Thorben in die Musik flüchtet, dann ist das die beste aller Alternativen. Auch wenn die Schule mal eine Weile darunter leidet.«
Magda war zum Heulen zumute, aber sie sagte nichts mehr. Es reichte, wenn Thorben sie schnitt, um im Moment nichts mit ihr zu tun zu haben. Sie wollte nicht auch noch Streit mit Johannes.
Wenig später war sie nicht nur überrascht, sondern regelrecht beeindruckt, welche Melodien Thorben bereits auf dem Klavier spielen konnte, aber immer, wenn sie Klavierklänge aus Thorbens Zimmer hörte, gab es ihr einen Stich.
Thorben kannte Arabella jetzt seit neunundzwanzig Tagen und dreizehn Stunden. Im Internet war sie ihm in einem Chatroom aufgefallen, weil sie sich den Namen »Seele« gegeben hatte.
»Warum heißt Du ›Seele‹?«, hatte er sie gefragt.
»Ich weiß nicht. Es ist mir so eingefallen.«
»Bist Du ein Mädchen?«
»Ja. Und Du?«
»Ich nicht.«
Sie schickte ein Smiley, um zu zeigen, dass sie die Antwort amüsiert hatte.
»Wie alt bist Du?«, fragte Thorben.
»Vierzehn. Und Du?«
Ein vierzehnjähriges Mädchen, das sich ›Seele‹ nannte, war etwas Wunderbares.
»Ich bin sechzehn.« Die Maus sprang auf dem Bildschirm, weil seine Hand leicht zitterte. »Wo wohnst Du?«
»In Berlin.«
»Ich auch.« Jetzt begann sein Herz heftig zu klopfen.
»Warum nennst Du Dich ›Adler‹?«
»Einfach nur so.«
»Das
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