Die Totengräberin - Roman
Wie ein Fels stand er im Völkerballfeld und fing jeden Ball, der ihn eigentlich treffen sollte. Er konnte nicht rennen, aber er konnte fangen. Seine dicken Arme schlossen sich blitzschnell um den Ball wie eine fleischfressende Pflanze um die zappelnde Fliege. Und sein Wurf war so hart, dass sich alle fürchteten, wenn er auf sie zielte. Max war fett. Johannes hätte ihn abscheulich gefunden, aber er wurde immer als Erster in die Mannschaft gewählt.
Thorben wollte alles daransetzen, ihn als Freund zu gewinnen, und bot sich an, ihm die deutschen Aufsätze zu schreiben und die Englischhausarbeiten zu erledigen. Max war begeistert. Er stand auf Kriegsfuß mit der deutschen
Sprache, verwechselte m und n, b und p und g und k. Außerdem schrieb er so, wie seine Mutter sprach. »Die Frau Müller ihr Bruder ist gestern in Krankenhaus gekommen«, sagte sie zum Beispiel, oder »Hast du die Erika ihrn Hut gesehen? Der tut ihr aber überhaupt nicht stehen!«
Max war einverstanden, dass sich Thorben neben ihn setzte, und Thorben ließ ihn abschreiben. So machte er sich im Lauf der Zeit für Max unentbehrlich und fühlte sich durch seinen starken Freund nicht mehr wie ein Käfer auf der Erde, den man ohne viel Kraftaufwand zertreten konnte.
Am Ende der sechsten Klasse hatte sich Max zu einem durchschnittlichen Schüler hochgeschummelt und wechselte zusammen mit Thorben ins Gymnasium. Obwohl Max einen Schuss in die Länge gemacht hatte und nicht mehr so übermäßig übergewichtig war, nannte Johannes ihn immer noch abfällig »den Klops« und sprach kaum drei Worte mit ihm, wenn der Klops bei Thorben war und auch an den Mahlzeiten teilnahm.
Aber nach einigen Monaten auf der neuen Schule begann der Klops sich zu verändern. Er traf sich nur noch so oft mit Thorben, wie es nötig war, um schulische Hilfestellung zu bekommen. Ansonsten scharte er eine Clique um sich, die stundenlang durch die Stadt zog, Schlägereien anzettelte, Handtaschen klaute, kiffte und sich maßlos betrank.
Als Max von der Schule flog, zog sich Thorben zurück. Verbrachte seine Nachmittage und Abende nur noch in seinem Zimmer, saß vor dem Computer oder spielte auf seiner Gitarre. Die Musik wurde ihm wichtiger als das reale Leben. Seine schulischen Leistungen fielen dramatisch ab, er hatte bis tief in die Nacht die Kopfhörer auf den Ohren,
in der Schule war er ständig übermüdet und schlief, wo er ging und stand.
»Ich weiß nicht, was mit dem Jungen los ist«, sagte Magda zu Johannes, »ich weiß nur, dass es so nicht weitergehen kann. Keine Ahnung, was er am Computer macht, wenn ich reinkomme, knipst er sofort die Seite weg, die er sich angesehen hat, oder er schaltet den Computer aus. Er macht keine Schularbeiten mehr, er hört nur noch Musik oder klimpert auf seiner Gitarre herum. Er geht nicht mehr aus dem Haus, es kommen keine Freunde mehr zu Besuch, und wenn er so weitermacht, schafft er die Klasse nicht, geschweige denn das Abitur.«
Johannes sah das alles nicht so dramatisch. »Der Junge ist in der Pubertät«, meinte er. »Da machen alle irgendwelche unerwarteten fürchterlichen Sachen. Und mir ist lieber, er hört Musik und hockt mal ein paar Monate am Computer, als dass er Drogen nimmt oder wie dieser Klops kriminell wird.«
»Ein paar Monate?«, schnaubte Magda spöttisch. »Die Pubertät dauert ein paar Jahre. Und dann hat er sich seine Zukunft verbaut.«
»Was willst du denn tun? Ihm den Computer wegnehmen? Die Gitarre zerhacken? Seinen iPod verkaufen? Das verzeiht er dir nie, und dann haut er ab. Um sich bei irgendeinem Freund vor den Bildschirm zu setzen und sich da mit Musik zu bedröhnen. Lass ihn, Magda, lass ihn einfach in Ruhe.«
»Ich habe schon mal mit dem Gedanken gespielt, ihn ins Internat zu geben«, sagte Magda leise und sah Johannes abwartend an. »Da gibt es geregelte Zeiten für Arbeit, Sport und Spiel, da werden die Schularbeiten überwacht, er ist immer mit anderen Jugendlichen zusammen und vereinsamt
nicht so, und es ist völlig unmöglich, Stunden um Stunden im Internet herumzusurfen oder mit irgendwelchen CDsvollkommen abzutauchen.«
»Internat ist Kapitulation, Magda«, sagte Johannes. »Wer es sich leisten kann, flieht vor den Schwierigkeiten und gibt sein Kind weg. Aber das will ich nicht. Ich will ihn sehen, wenn ich nach Hause komme, ausziehen wird er früh genug.«
»Wann hast du denn das letzte Mal mit ihm geredet? Ich kann mich nicht erinnern. Wenn er überhaupt zum Essen erscheint, sagt er keinen
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