Die Totengräberin - Roman
der Stille der Nacht:
»… So darlin’, darlin’, stand by me, oh, stand by me. Oh, stand, stand by me. Stand by me.«
Das Käuzchen schrie, aber sie hörte es nicht.
Sie ging ins Haus, legte sich ins Bett und schlief ein. Ganz ruhig, ganz zufrieden, ganz leicht.
77
Pünktlich um zehn am Montagmorgen kam Frau Dr. Nienburg mit ihrem Mietwagen nach La Roccia.
Die Haustür stand offen.
Frau Dr. Nienburg rief leise »Hallo!«, und dann etwas lauter: »Buongiorno! Ist da jemand?«
Magda kam um die Hausecke und blieb überrascht stehen, als sie die große, ältere Frau vor ihrer Haustür stehen sah.
»Guten Tag«, begann Frau Dr. Nienburg, »mein Name ist Nienburg. Sind Sie Frau Tillmann?«
Magda nickte nur, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte nichts.
»Entschuldigen Sie, wenn ich störe und hier so hereinplatze. Aber ich wollte eigentlich mit Herrn Tillmann sprechen.«
»Der ist nicht da. Der ist in Rom. Aber ich nehme an, dass er am Wochenende zurück sein wird.«
Frau Dr. Nienburg überlegte blitzschnell. Die ganze Sache war fürchterlich kompliziert. Natürlich, Frau Tillmann hielt Lukas für ihren Mann, aber warum sagte sie, er wäre in Rom? Oder erinnerte sie sich jetzt wieder an den verschwundenen Johannes? Dann wäre sie völlig klar im Kopf. - Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Alles,
was Lukas erzählt hatte, hörte sich nicht nach einem vorübergehenden Phänomen an.
»Sie sagen, Ihr Mann ist in Rom? Das wundert mich aber. Denn wir sind hier heute Morgen um zehn fest verabredet. Hat er Ihnen nichts davon erzählt?«
»Nein, hat er nicht.« Magda seufzte genervt.
»Das verstehe ich nicht. Ich bin nämlich extra nach Italien gekommen, um ihn hier zu treffen.«
»Was wollen Sie denn von ihm?«
»Es geht um ein schwieriges Problem, das wir besprechen wollten.«
»Aha.«
Mein Gott, ist diese Frau unzugänglich, dachte Mechthild Nienburg, das ist ja schrecklich.
»Kleinen Moment, ich werde ihn mal kurz versuchen anzurufen.« Frau Dr. Nienburg wählte Lukas’ Handynummer, es klingelte lange, aber er ging nicht ran.
»Er hebt nicht ab«, sagte sie zu Magda. »Sind Sie sicher, dass Ihr Mann in Rom ist?«
Langsam wurde Magda ungeduldig. »Wenn er sagt, dass er nach Rom fährt, dann wird er wohl auch nach Rom gefahren sein. Wo sollte er denn sonst sein?«
In Rom war Lukas ganz sicher nicht, überlegte Frau Dr. Nienburg, aber wo war er dann? Entweder war ihm etwas passiert, oder er wohnte hier nicht mehr. Hatte so rigoros und konsequent mit Magda Schluss gemacht, dass er ihre Anwesenheit nicht länger ertragen konnte.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich eine Weile warte? Ich bin sicher, dass er gleich kommen wird. Am Samstagabend haben wir nämlich noch telefoniert und diesen Termin hier vereinbart. Wenn er nach Rom gewollt hätte, hätte er es mir gesagt.«
Magda deutete auf den Tisch vor dem Haus. »Meinetwegen, setzen Sie sich.«
»Danke. Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.«
Frau Dr. Nienburg setzte sich, und Magda kam wenig später mit einer Flasche Mineralwasser und zwei Gläsern dazu. Sie schenkte ein, und man konnte ihren Bewegungen und ihrem unbewegten Gesichtsausdruck ansehen, wie ungern sie das alles tat.
»Sehr schön haben Sie es hier«, sagte Frau Dr. Nienburg lächelnd, »wirklich ein fantastisches Anwesen! Ein herrlicher Blick, und dann diese Ruhe, das ist für einen großstadtgeplagten Menschen einfach unglaublich. Ich könnte mir vorstellen, dass man nachts wach liegt, weil es einfach zu ruhig ist.«
»Man gewöhnt sich dran. Am Anfang war es merkwürdig. Das stimmt.«
»Wie lange sind Sie schon hier in der Toskana?«
»Zehn Jahre. Aber das Haus ist erst seit vier Jahren fertig.«
Frau Dr. Nienburg nickte. »Traumhaft. Wirklich einmalig. Man kann Ihnen dazu nur gratulieren.«
Die Unterhaltung stockte.
Wie komme ich an sie ran, überlegte Dr. Nienburg, irgendwie muss diese harte Nuss doch zu knacken sein!
»Ihr Mann kommt nicht wieder, Frau Tillmann«, sagte Frau Dr. Nienburg plötzlich in die Stille, »er hat Sie wegen einer anderen Frau verlassen. Das hat er mir auch am Samstagabend gesagt.«
Magda fing an zu zittern. Was war das bloß für eine widerliche Schmeißfliege, diese Frau. Es war an der Zeit, dass sie sie loswurde.
»Ich weiß nicht, was Sie das überhaupt angeht.«
»Ihr Mann ist nicht in Rom. Wahrscheinlich ist er schon wieder auf dem Weg nach Deutschland, zu seiner Geliebten. Machen Sie sich doch nichts vor, Frau
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