Die Totengräberin - Roman
falls ich noch Fragen haben sollte, rufe ich Sie an oder komme vorbei.«
»Danke, das ist sehr nett von Ihnen.« Magda stand auf.
Sie reichte Neri die Hand. »Arrivederci, Signor Neri. Molte grazie.«
Damit verließ sie das Büro, und Neri glaubte, sogar ihrem Rücken anzusehen, wie unglücklich sie war.
Als Erstes ging er zu der großen Karte, die er an der Wand seinem Schreibtisch gegenüber aufgehängt hatte, um zu sehen, wo La Roccia überhaupt lag. Er war jetzt seit drei Monaten in Ambra und kannte sich in der Umgebung noch nicht sonderlich gut aus. Besonders die vereinzelten und einsam gelegenen Podere waren ihm noch völlig fremd.
Wenn sie nach einem Einbruch oder zur Schlichtung einer Streiterei gerufen wurden, musste er sich immer auf die Ortskenntnis seines Kollegen Alfonso verlassen.
Neri brauchte eine Weile, um das Podere auf einer Höhe von fünfhunderteinunddreißig Metern zwischen Solata, San Leolino und Nusenna zu finden. Jetzt hatte er eine ungefähre Vorstellung, wo das Haus lag, und war sich vollkommen sicher, noch nie dagewesen zu sein. Ein weiterer Grund, die Signora mal zu besuchen. Er wollte sich ein umfassendes Bild machen, wie das Paar in dem einsamen Haus lebte. »Zeige mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist«, war ein Lieblingsspruch von Gabriella. Vielleicht sagte ihm ja seine Intuition, ob wirklich alles so eitel Sonnenschein war, wie die Signora behauptet hatte.
Alfonso hatte keinen Besuch mehr. Der Deutsche war frustriert und verzweifelt gegangen. Mit dem Gefühl, niemals in diesem Leben die erforderlichen Papiere beschaffen zu können. Auf jeden Fall hatte er die düstere Ahnung, in den nächsten Monaten wöchentlich bei der Polizei erscheinen zu müssen, um jedes Mal zu erfahren, welche Unterlagen nun noch fehlten.
Jetzt saß Alfonso auf seinem harten Bürostuhl und blätterte in einer Jagdzeitung. Er war leidenschaftlicher Jäger und bei seinen Jagdfreunden, wenn diese keine Jagderlaubnis hatten, mehr oder weniger versehentlich Haustiere abknallten oder in absoluter Nähe von Häusern herumballerten, sodass die Bewohner verängstigt die Carabinieri riefen, regelmäßig auf beiden Augen blind. Das brachte ihm in jedem Herbst etliche Liter Öl und einen beträchtlichen Vorrat an Wein und Grappa ein.
Bis auf diese Unart war er jedoch ein angenehmer Kollege, mit dem man oft und gern einen über den Durst trinken,
laut fluchen und schmutzige Witze erzählen konnte. Er nahm nichts übel, war ständig unverschämt gut gelaunt, liebte seine Frau und seine Kinder über alles und versuchte, bei allem, was er tat, gerecht zu sein. Jedenfalls so, wie er sich Gerechtigkeit vorstellte. Alfonso war fünf Jahre jünger als Neri und konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als Polizist in Ambra zu sein. Er träumte nicht von Rom und auch von keiner anderen Stadt. Er war glücklich in dieser ländlichen Gegend, in der ihn jeder grüßte, was er genoss, und in der er jeden Baum, jeden Strauch und jeden Einheimischen kannte.
Alfonso war einen halben Kopf kleiner als Neri und auf dem Oberkopf vollständig kahl. Nur ein vier Zentimeter breiter dunkler Haarkranz war ihm geblieben. Er sieht aus wie ein Clown, dachte Neri häufig, besonders wenn Alfonso am Abend zuvor im Grappa ertrunken war und auch noch eine rote Nase hatte.
»Johannes Tillmann, der Padrone von La Roccia, ist verschwunden. Seine Frau hat ihn als vermisst gemeldet«, meinte Neri, als er an Alfonsos Tisch trat. »Kennst du ihn?«
»Flüchtig. Hab ihn ein paarmal auf dem Markt gesehen. Und ich glaube, er war auch mal hier. Wegen seiner Papiere. Irgendwann kommt ja jeder mal hier vorbei.« Er grinste und blätterte ungestört weiter in seiner Zeitung.
»Und jetzt ist er weg. Seit Freitag. Also heute den sechsten Tag.«
»Ja und?« Alfonso war völlig unbeeindruckt. »Er wird schon wiederkommen. Oder einen rührenden Brief aus Brasilien schreiben, dass er sein Leben ändern will. Vielleicht hat er auch eine dunkelhäutige Schönheit beim Sambatanzen kennengelernt. Hör mir auf.«
»Er ist nicht nach Brasilien gefahren, sondern nach Rom.«
»Oh-Oh!« Alfonso amüsierte sich königlich. »In Rom gibt es viele Abgründe, die sich auftun und aus denen man nie wieder auftauchen kann, stimmt’s, Neri? Du kennst dich doch da aus. Du bist doch hier unser Romexperte.«
Alfonsos Sätze brannten in Neris Seele, aber er versuchte, gelassen zu bleiben und sich nicht anmerken zu lassen, dass er verletzt war. »Die Frau glaubt
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