Die Totengräberin - Roman
Motorradfahrer, platt auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt, wie ein zerschmetterter Maikäfer.
Die Motorradkluft war teuer, gut gepolstert, das sah er auf den ersten Blick. Er öffnete das Visier und sah fassungslos in ein paar angstvoll geweitete, braune Augen, eine fein geschwungene Nase und einen runden, aber kleinen Mund, dessen Lippen zitterten. Verflucht noch mal, der Kerl ist eine Frau, dachte Johannes und: Gott sei Dank, sie lebt noch.
»Ganz ruhig«, sagte er leise, »beweg dich nicht. Alles wird gut. Gleich kommt Hilfe.«
Mit fliegenden Fingern tippte er den Notruf in sein Handy, gab den Ort des Unfalls durch und bat um einen Krankenwagen. Mindestens. Wenn nicht einen Rettungshubschrauber. Und betete dabei, dass sie durchhalten möge.
Sie stöhnte. Er setzte sich neben sie und streichelte mit der Fingerspitze ihre Wange. Irgendwo hatte er mal gelesen, man solle den Helm nicht abnehmen, falls die Wirbelsäule verletzt ist, um dem Unfallopfer nicht auch noch das Genick zu brechen, also tat er gar nichts weiter. Horchte auf ihren Atem, nahm jedes Stöhnen als Hoffnungsschimmer und streichelte sie unaufhörlich.
»Kannst du was sagen?«, fragte er. »Sag mir deinen Namen!« Aber er bekam keine Antwort. »Egal. Hab keine Angst. Ich bin bei dir. Und ich bleib auch bei dir. Gleich kommt der Arzt, und die kriegen dich wieder hin. Ganz bestimmt.«
Er hatte das Gefühl, Stunden neben ihr gesessen zu haben, als Polizei und Rettungswagen endlich eintrafen, dabei waren nur zehn Minuten vergangen.
Johannes erzählte der Polizei kurz und präzise, was er gesehen hatte, gab seine Personalien an und fuhr dem Rettungswagen hinterher. Warum er das tat, konnte er später nicht mehr sagen. Es geschah vollkommen spontan, ohne jede Überlegung. Er kannte die Frau nicht, er wusste nichts von ihr, es war noch nicht einmal sicher, ob sie überlebte. Er hatte einen wichtigen Termin bei Dr. Schönfeld. Und fuhr dennoch hinterher.
Er hielt ihre Hand, als sie auf der Trage aus dem Rettungswagen ins Krankenhaus geschoben wurde, er wartete auf dem Flur, während sie untersucht wurde.
Um neunzehn Uhr waren die Untersuchungen beendet, und sie bekam Zimmer vierzehn im ersten Stock. Die Schwester fragte ihn, ob er etwas essen wolle, aber Johannes lehnte ab und ging in die Cafeteria. Dort trank er einen Kaffee, aß zwei belegte Brötchen und fragte sich zum ersten Mal, ob er verrückt geworden war. Warum er seinen Termin nicht wahrnahm, sondern wie der Schatten einer Verunglückten auf Krankenhausfluren herumsaß, in monatealten zerlesenen Zeitschriften blätterte und sich die Milliarden von Bakterien vorstellte, die an den Seiten hafteten.
Sie hatte noch kein einziges Mal gesprochen. Aber als sie zum Röntgen geschoben wurde, hatte sie ihn angelächelt. Vielleicht war er darum geblieben.
»Sie hat unglaubliches Glück gehabt«, hatte der Oberarzt gesagt, »sie ist wie ein Gummiball durch die Luft geschossen und gelandet wie eine Katze. Sie hat eine schwere Gehirnerschütterung, aber keine Schädelfraktur und keine
inneren Verletzungen. Aber einen Arm- und einen Schulterbruch. Morgen werden wir operieren.«
Sie schlief ruhig. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Atem ging gleichmäßig. Ihr linker Arm lag in einem provisorischen Gips, ihr Hals steckte in einer Halskrause und sah aus wie in die Länge gezogen.
Die Neonröhre an der Decke brannte und beleuchtete das Zimmer mit einem fahlen, kalten Licht, das sie noch blasser erscheinen ließ, als sie ohnehin schon war. Er stand unbeweglich und sah sie an. Mehrere Minuten. Konnte sich an ihrem Haar nicht sattsehen. Es war rötlich blond und lockig, beinah schon kraus, und umrahmte ihr schmales Gesicht wie eine wilde Mähne.
Er bemerkte, dass an der Rückseite des Bettes ihr Name stand, und beugte sich vor, um ihn besser entziffern zu können. Carolina Hammacher stand darauf. Alter 34.
An der Kopfseite des Bettes hing eine Fieberkurve, die mit dem ersten Eintrag gerade erst begann. Carolina war fieberfrei.
So leise und langsam wie möglich durchsuchte er seine Jacketttasche nach einem Stück Papier und einem Kugelschreiber. Seine Aktentasche hatte er im Auto gelassen. Er fand nur eine Kaugummischachtel. Die letzten beiden Kaugummis steckte er sich in den Mund, riss die Ecken der Schachtel auseinander, bis er eine gerade Fläche hatte, und schrieb auf den harten Karton: »Liebe Carolina, werd schnell gesund. Ich hoffe, sie finden den, der Dir die Vorfahrt genommen hat.
Weitere Kostenlose Bücher