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Die Totengräberin - Roman

Die Totengräberin - Roman

Titel: Die Totengräberin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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verwundetes Tier.
    Lukas war über diesen Gefühlsausbruch derart erschrocken, dass er ein paar Sekunden lang nicht wusste, was er machen sollte. Dann versuchte er sie in den Arm zu nehmen, aber sie stieß ihn weg und schluchzte noch lauter und heftiger.
    »Was hast du?«, stammelte er unsicher. »Was ist denn bloß los? Was habe ich dir denn getan?«
    »Alles machst du schlecht, alles machst du kaputt«, schrie sie, »du nimmst mir jede Hoffnung, weil du ihn gar nicht finden willst! Du bist froh, dass er weg ist, stimmt’s? Du bist so destruktiv, so negativ, du suchst ihn nicht, und du hilfst mir auch nicht! Im Gegenteil, du machst alles nur noch schlimmer!« Es brach aus ihr heraus wie eine Gerölllawine, die ins Rutschen kommt, immer größer wird und schließlich im Tal alles erschlägt.
    »Ich halte das alles nicht mehr aus!«, schrie sie weiter und trommelte mit den Fäusten gegen ihre Schläfen. »Kannst du dir das nicht vorstellen? Diese Angst, dass ihm irgendetwas zugestoßen ist, diese ewige Ungewissheit! Ich vermisse ihn so unendlich, und das, was wir hier tun, wie wir unsere Tage verbringen, ist alles so sinnlos, so dumm! Ich werde verrückt, Lukas, ich kann hier nicht mehr rumsitzen und warten!«

    »Das weiß ich doch. Und ich versteh dich auch«, murmelte er, und sie explodierte erneut.
    »Gar nichts weißt du, und gar nichts verstehst du! Nichts! Du hast ja keine Ahnung, wie ich mich fühle und wie es hier in mir drin aussieht!« Sie schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust, dass es knallte. »Ich kann einfach nicht mehr, Lukas, ich halte das alles nicht mehr aus!«
    Sie legte den Kopf auf die Arme und weinte lautlos. Er stand stumm daneben und tat gar nichts. Wagte noch nicht einmal, ihr übers Haar zu streichen.
    Nach einigen Minuten stand sie auf. »Ich glaube, ich bringe mich um«, flüsterte sie und ging hinauf in ihr Schlafzimmer.
     
    Lukas hörte sie noch ein paarmal nach Johannes rufen, dann war alles still.
    Er saß in der Küche wie auf glühenden Kohlen, wusste überhaupt nicht, wie er sich verhalten sollte.
    Drei Stunden hielt er es aus. Dann ging er nach oben und öffnete leise ihre Tür.
    Sie lag auf dem Bett, aber sie schlief nicht, sondern hatte den Kopf zur Seite geneigt und sah unbeweglich aus dem Fenster. Auch als er in der Tür stand, reagierte sie nicht.
    »Bitte sei mir nicht böse«, sagte er leise. »Verzeih mir, Magda.«
    Sie sah ihn an, und ihr Blick war ganz sanft. Beinah zärtlich.
    »Du brauchst wirklich nicht mitzukommen, Lukas. Ich fahre auch allein.«
    »Natürlich komme ich mit. Ich fahre gern mit dir nach Rom. Und ich will alles tun, was in meiner Macht steht, um dir zu helfen.«

    »Morgen früh um acht fahren wir hier los«, sagte sie und lächelte. »Ich will den Zug um neun Uhr fünfzehn nehmen. Ist das okay für dich?«

35
    »Es ist ein merkwürdiges Gefühl, genau dasselbe zu tun wie Johannes vor einigen Tagen«, sagte Magda gedankenverloren, als sie im Zug saßen. »Ich sehe aus dem Fenster, ich lese, vielleicht schlafe ich ein paar Minuten - ich fahre nach Rom. So wie er nach Rom gefahren ist. Ich folge seiner Spur und komme ihm immer näher. Vielleicht hat er die ganze Zeit darauf gewartet, dass ich das endlich tue, und eventuell komme ich sogar zu spät. Aber ich werde ihn finden, Lukas. Von Minute zu Minute wird mir das klarer. Ich hätte schon viel eher fahren sollen.«
    »Du hast alles versucht und alles richtig gemacht. Ich denke, du hast dir absolut nichts vorzuwerfen.« Lukas spürte selbst, wie hohl seine Worte klangen.
    Magda lächelte ihm zu und schloss die Augen. Der Zug verließ den Bahnhof von Arezzo. Nach wenigen Minuten hörte sie die Stimmen um sie herum nicht mehr, in ihr Bewusstsein drang nur noch der monotone Klang des Ratterns der Räder auf den Schienen und ging ganz allmählich, beinah unmerklich in den Rhythmus einer Melodie über, die sie auf dem Rummel gehört hatte, als sie sieben Jahre alt war, und die sich fest in ihre Erinnerung eingebrannt hatte.

    Sie war nicht allein mit ihrem Vater auf dem Oktoberfest, darum hielt er sie auch nicht an der Hand. »Jemand« war mit dabei: groß, dunkelhaarig, schlank und mit eindrucksvollen braunen Augen. Ihr Vater nannte sie so, wenn er von ihr redete, ihre Mutter vermied es, überhaupt von »Jemand« zu sprechen. Magda war sich nicht ganz klar, welche Rolle Jemand in ihrer Familie spielte - aber sie hatte kein gutes Gefühl.
    Ihr Vater hatte den Arm um die Schultern von Jemand gelegt

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