Die Totengräberin - Roman
und lachte viel. Viel mehr als zu Hause, wenn Jemand nicht dabei war.
Magda hatte eigentlich gedacht, ihr Vater sei mit ihr aufs Oktoberfest gegangen, um ihr eine Freude zu machen, aber das war ein Irrtum gewesen. Das merkte sie jetzt. Er wollte mit Jemand zusammen sein, sie war nur das fünfte Rad am Wagen und trottete lustlos hinter den beiden her.
Jemand griff Vaters rechte Hand, die auf ihrer Schulter lag, und die beiden spielten mit ihren Fingern. Magda wusste nicht wieso, aber sie schämte sich dafür.
Am nächsten Stand kaufte ihr der Vater Zuckerwatte. Groß, weiß, klebrig und süß. Und als Magdas Kindergesicht hinter der riesigen Watte verschwand, küsste er Jemand auf den Mund. Wahrscheinlich hatte er vermutet, dass Magda hinter der Zuckerwatte nichts sehen konnte, aber sie sah es dennoch.
Magda konnte Jemand nicht leiden. Sie kam ihr vor wie eine dicke Python, die sich im Haus einnistet und ganz langsam einen nach dem andern verschlingt. Immer wenn Magda Jemand sah, überkam sie eine diffuse Angst. Und schon deshalb konnte sie sie nicht ausstehen.
Sie war sich auch sicher, dass Jemand sie nur als störend betrachtete. Viel lieber wäre sie mit ihrem Vater allein gewesen,
aber Magda konnte sich nun mal nicht wegzaubern, und sie fürchtete, dass ihr Vater böse auf sie werden würde, wenn Jemand deswegen schlechte Laune bekam. Schließlich war sie, Magda, an allem schuld.
»Ich möchte Geisterbahn fahren«, sagte Magda laut und vernehmlich und zupfte ihren Vater am Jackett. Er und Jemand sahen sich an. Dann nickte er.
Das Gute war, dass in den Wagen der Geisterbahn nur zwei Personen Platz hatten. Jemand konnte also nicht mitfahren.
Magda gruselte sich wirklich. Sie schmiegte sich ganz dicht an ihren Vater, kuschelte sich in seine Armbeuge und betete, dass erstens diese wunderbare Fahrt zusammen mit Papa durch dunkle Tunnel, vorbei an kreischenden Gespenstern und blutverschmierten Geköpften nie ein Ende nehmen und dass zweitens Jemand verschwinden würde. Inständig hoffte sie, dass Jemand vom Blitz getroffen oder von der Erde verschluckt würde, aber nichts geschah. Ihr Vater spendierte drei Fahrten, und jedes Mal stand Jemand am Ende der Fahrt fröhlich lächelnd und winkend an der Stelle, wo der Wagen hielt.
Und in diesem Moment vermisste Magda ihre Mutter so sehr. Wenn sie da draußen gestanden hätte - das wäre perfekt gewesen. Oktoberfest mit Mama und Papa, etwas Schöneres konnte sich Magda nicht vorstellen.
Einen Moment überlegte Magda, ob sie es schaffen würde, Jemand aus der Gondel zu schubsen. Genau vor die Füße eines fünfköpfigen feuerspeienden Drachen, oder in die Arme einer ekelhaft gackernden Hexe - aber dann verdrängte sie den Gedanken ganz schnell wieder. Niemals würde sie sich das trauen. Und wenn sie jetzt noch länger darüber nachdachte, würde sie diese bösen Gedanken am
Samstag in der Kirche beichten müssen, und das wollte sie auf gar keinen Fall.
An einem Schießstand schoss ihr Vater einen kleinen Stoffaffen mit Boxhandschuhen. Jemand jubelte bei jedem gelungenen Schuss, als habe sie einen Sack voll Geld gewonnen, aber der Affe war für Magda.
Danach kehrten sie in einem Bierzelt ein. Zwei große Bier und zwei halbe Hähnchen für Papa und Jemand, Magda aß eine Currywurst und trank dazu eine Cola.
Sie saß den beiden genau gegenüber, aber sie unterhielten sich so leise, dass Magda kaum ein Wort verstand. Der eintönige Rhythmus eines Karnevalschlagers dröhnte durch das Zelt. Magda hatte ihre Wurst aufgegessen und ließ ihren Affen nach der Musik tanzen. Dabei fiel er vom Tisch. Als sie sich bückte, um den Affen aufzuheben, sah sie unter dem Tisch, dass Jemands Rock hochgeschoben war. Sie sah ihre Strumpfhalter und die Hand ihres Vaters, die zwischen Jemands bleichen Schenkeln verschwand.
Als Magda wieder auftauchte, wusste sie, dass sie flammend rot war. Nicht nur weil sie den Kopf einen Moment unter dem Tisch gehabt hatte. Sie schämte sich so maßlos, viel mehr als über die ineinander verhakten Finger.
Das Oktoberfest machte ihr keinen Spaß mehr, und eine unendliche Traurigkeit überkam sie, als wäre ihr eigenes Leben als kleines Mädchen plötzlich sinnlos und düster geworden.
Magda öffnete die Augen. Noch knapp zwei Stunden Fahrt lagen vor ihnen. Obwohl der Zug nicht voll besetzt war, war es wenig angenehm, im Abteil zu sitzen. Die Sitze waren ungemütlich, sie hatten eine Form, die absolut nicht dem menschlichen Körper entsprach, die
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