Die Totengräberin - Roman
wegschickte. »Ich bleibe noch eine Weile hier und sehe mir alles an, dann gehe ich zurück ins Hotel.«
»Gut. Da treffen wir uns nachher. Oder heute Abend. Je nachdem.«
Sie wartete keine Antwort mehr ab, sondern drehte sich um und ging.
Lukas sah ihr nach. Sie hatte einen leichten, geraden Gang, von hinten wirkte sie fast wie ein junges Mädchen. Und in diesem Moment bekam er Angst, sie könnte genauso in Rom verschwinden, wie Johannes in dieser Stadt verschwunden war. Vielleicht hatte sie ihn nur deshalb weggeschickt.
Er beschloss, nicht ins Hotel zu gehen, sondern sie zu beobachten. Unauffällig, von ihr unbemerkt, um sie nicht zu verlieren. Auch wenn es Stunden dauern sollte.
Magda bog in ein Seitenschiff ab. Lukas verlor sie aus den Augen, weil ihm eine mehrere Meter breite Säule die Sicht versperrte. Er folgte ihr, ging von der anderen Seite um die Säule herum und stand plötzlich einer japanischen Reisegruppe gegenüber, die einen der vierundvierzig Altäre besichtigte und in ihren Reiseführern blätterte. Die Reiseleiterin hielt als Erkennungszeichen einen roten Schirm in der Hand, auf dessen Spitze eine Baseballkappe steckte, und redete viel zu laut in einer unerträglich hohen Tonlage, sodass Lukas sich beinah die Ohren zugehalten hätte. So schnell wie möglich drängte er sich durch die Gruppe.
Als er sich anschließend umsah und wieder einen freien Blick über das Kirchenschiff hatte, wurde ihm eiskalt.
Magda war nicht mehr da.
Er suchte sie anderthalb Stunden. Hatte kein Interesse mehr an all dem Glanz der Altäre, an den riesigen Skulpturen, an den unvorstellbaren Ausmaßen dieser gigantischen Kirche, er lief, ja er rannte fast hin und her, von vorne nach hinten, von links nach rechts, er kaufte sich ein Biglietto und fuhr hinauf auf die Kuppel, sah vom inneren Rundgang in die Tiefe des Doms und versuchte sie unter den winzig kleinen Menschen zu erkennen, er hastete treppauf, treppab, fuhr mit dem Fahrstuhl hinauf und hinunter, durchsuchte jeden Winkel im Freien, suchte sie in allen äußeren Bereichen der Kuppel, starrte sogar in die Tiefe, ob irgendwo ein Menschenauflauf darauf hindeutete, dass jemand gesprungen war. Feuerwehren hörte er ohne Unterbrechung, und er wunderte sich, wie viele Möglichkeiten es hoch oben auf dem Dach des Petersdomes gab, sich zu verstecken. Normalerweise wäre ihm das nicht aufgefallen, aber jetzt wurde er fast verrückt.
Er fragte im Andenkenladen, der von Nonnen betrieben wurde, die zig Varianten von Rosenkränzen und Papstbilder aller Art und aller Größen verkauften, ob sie eine Frau wie Magda gesehen hätten. Und er beschrieb sie notdürftig mit den wenigen Brocken Italienisch, die ihm zur Verfügung standen. Aber während er dies tat, wusste er schon, dass es sinnlos war. Tausende Frauen glichen dieser vagen Beschreibung. Ein Bild hatte er nicht dabei, und die Nonnen konnten nur bedauernd lächeln.
Er hatte keine Chance. Während er auf der Kuppel herumrannte, war sie vielleicht unten, und während sie mit
dem Fahrstuhl nach oben fuhr, lief er vielleicht gerade wieder die Treppe hinunter. Was er jetzt brauchte, war ein klein bisschen Glück, aber das hatte er nicht.
Er ging sogar ins Museum und brauchte nur wenige Minuten, um durch die Räume zu hasten. Von all den ausgestellten Gegenständen nahm er nichts wahr, er fragte noch einmal halbherzig nach ihr - ohne Erfolg.
Sein Magen knurrte, und er hatte überhaupt keine Lust, in sein schreckliches Zimmer zurückzukehren. Also aß er in einer Osteria eine Minestrone und eine Pizza, kaufte einen Stadtplan und beschloss, sich auf eigene Faust Rom anzugucken.
Im Innern seiner Seele war er wütend auf Magda, weil sie ihn im Dom wie einen dummen Jungen stehen gelassen und sich aus dem Staub gemacht hatte. Letztendlich war sie dafür verantwortlich, dass dieser Tag ein verlorener war.
40
Die hohen schrillen Stimmen der Japaner gingen Magda unglaublich auf die Nerven. Sie konnte nicht in Ruhe zu einer überlebensgroßen Skulptur aufblicken, ohne von spitzen Regenschirmen, blitzenden Fotoapparaten und surrenden Kameras umgeben zu sein. Die Japanerinnen quietschten vor Begeisterung und schienen alle gleichzeitig zu reden.
Und plötzlich stand Magda vor einem Beichtstuhl aus altem, schwerem, dunklem Holz mit zwei fest verschließbaren Türen, was bei einem Beichtstuhl nicht unbedingt häufig und nicht obligatorisch ist.
Ohne zu zögern und auch ohne darüber nachzudenken, schlüpfte Magda hinein
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