Die Totengräberin - Roman
an diesem Tag erst zur dritten Stunde hatte.
Aber sie verließ die Wohnung noch nicht, weil sie sah, dass ihre Mutter völlig versteinert am Telefon stand und sich die linke Hand gegen die Stirn drückte. Magda wartete darauf, dass ihre Mutter etwas sagte, damit sie erraten konnte, wer der Anrufer war …, aber ihre Mutter schwieg. Nur zweimal murmelte sie ein leises »Ja«.
Als sie aufgelegt hatte, nahm sie Magda schweigend in den Arm und drückte sie fest an sich. Magdas Herz klopfte bis zum Hals. Sie spürte, dass eine Katastrophe eingetreten war.
»Wir müssen uns jetzt gegenseitig ganz fest halten«, sagte ihre Mutter leise. »Von nun an haben wir nur noch uns.«
»Was ist passiert?«, flüsterte Magda, und die Angst schnürte ihr fast die Kehle zu.
»Dein Vater ist tot. Er ist auf der Autobahn verunglückt. Vollkommen ungebremst auf einen Laster am Stauende aufgefahren. Man kann sich noch nicht erklären, warum er nicht gebremst hat. Entweder hat er nicht aufgepasst, oder die Bremsen haben versagt. Aber das ist ja jetzt eigentlich auch egal.«
Magda sagte keinen Ton.
»Jemand ist schwer verletzt. Man weiß nicht, ob sie überleben wird.«
Magda sagte immer noch nichts. Sie wartete auf ein ganz großes Gefühl: Verzweiflung, Entsetzen oder abgrundtiefes Unglücklichsein. Aber sie fühlte gar nichts, weil sie sich absolut nicht vorstellen konnte, dass ihr Vater nie zurückkehren würde.
»Du brauchst heute nicht zur Schule zu gehen«, meinte ihre Mutter. Dann legte sie sich auf die Couch, breitete eine Wolldecke aus und zog sie sich übers Gesicht.
Die Beerdigung war in der darauffolgenden Woche. Jemand lag immer noch im künstlichen Koma, und Anita war froh, ihr nicht ein zweites Mal begegnen zu müssen.
Magda weinte ohne Unterlass. Ihre Mutter stand hinter ihr und hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt. »Beruhige dich, Schatz«, flüsterte sie, »bitte beruhige dich.«
Sie selbst stand mit trockenen Augen am Grab und starrte auf den Sarg, der langsam in der tiefen Kuhle versenkt wurde. Darin lag ihr Mann, der ihr vor Jahren einmal ewige Treue geschworen hatte.
Schließlich warf sie drei Schäufelchen Sand auf den Sarg und wandte sich ab.
»Komm«, sagte sie zu Magda, »lass uns gehen.«
Hand in Hand gingen sie langsam den gepflegten Friedhofsweg entlang.
»Wenn einer den andern betrügt, ist das Leben zu Ende«, sagte ihre Mutter.
Ihr Gang war aufrecht, ihr Blick klar geradeaus gerichtet, und ihre Stimme klang zuversichtlich.
Magda saß beinah zwei Stunden auf der Spanischen Treppe, aß ein Eis und ging dann in Richtung Trevi-Brunnen, der ganz in der Nähe war.
Erst als sie den Brunnen erreicht hatte, wurde ihr bewusst, dass sie die Zeit vergessen hatte.
Aber es war ja völlig egal. Sie musste weder ein Flugzeug bekommen noch einen Zug erwischen, sie musste keine Kinder von der Schule abholen, nicht zur Theaterpremiere und hatte auch keinen Zahnarzttermin. Niemand hinderte sie daran, diesen Tag einfach so verstreichen zu lassen.
Die atemberaubende Schönheit des Brunnens überraschte sie immer wieder. Sie hatte ihn schon mehrmals gesehen, aber es nahm ihr dann doch jedes Mal wieder den Atem, wenn sie vor ihm stand. So faszinierend und so einzigartig war er ihr nicht im Gedächtnis geblieben. Vielleicht lag es auch daran, dass sie noch niemals ein Foto gesehen hatte, das auch nur annähernd einzufangen vermochte, wie gewaltig dieser Brunnen, eingebettet in schmale Gassen, tatsächlich war.
Die Sonne ging unter. Fast zeitgleich schalteten sich die Lichter ein, um den Brunnen zu beleuchten. Gerade dieses Zwielicht gefiel Magda. Ein Bauwerk erschien zu dieser Stunde nicht so flach wie bei Tageslicht und nicht so reduziert auf Licht und Schatten wie bei Nacht.
Sie setzte sich auf den Brunnenrand und öffnete ihr Portemonnaie, um Münzen ins Wasser zu werfen. Immer und immer wieder wollte sie hierhin zurückkehren.
Und dann plötzlich sah sie ihn. Ja, sie war sich ganz sicher.
Mit einem Schrei sprang sie auf und kämpfte sich durch die Massen, die den Brunnenrand bevölkerten. »Gehen Sie zur Seite, ich muss hier durch«, schrie sie und boxte regelrecht um sich. »Scusi!«, »Permesso!« Sie fühlte sich zwischen all diesen Menschen wie eine Schiffbrüchige, die mit einer Konservendose Wasser aus dem Boot schaufelt, während durch jede Welle die zehnfache Menge wieder hineinschwappt.
Am schlimmsten war die Angst, dass er wieder in der Masse verschwinden könnte. Jetzt, wo der
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