Die Totengräberin - Roman
und schloss hinter sich die Tür.
Im Inneren war es eng und dunkel, und gut eine Stunde verbrachte sie in der winzigen Kammer, die nicht größer war als eine Kiste. Aber je mehr sie auf der harten Kniebank in sich zusammensackte, umso gelassener wurde sie. Um sie herum und gedämpft durch den Beichtstuhl raunten die Stimmen der Besucher des Petersdoms, und sie war mittendrin, ein Teil der murmelnden Masse, aber doch vollkommen allein und für alle Welt unsichtbar. So ließ sie ihre Gedanken wandern und wurde immer zuversichtlicher.
Sie würde ihn wiedersehen.
Die Luft im Beichtstuhl war stickig und trocken, roch nach altem Pergamentpapier, Weihrauch und stockigen Messgewändern. Es schien, als stauten sich hier seit Jahrzehnten Geheimnisse, fromme Lügen und gebeichtete Sünden.
Magda glaubte nach einer Weile, nicht mehr allein im Beichtstuhl zu sein. Sie vermutete ein Gesicht hinter dem hölzernen Gitter. Unsichtbar, stumm, aber mit warmem Atem, der nach süßem Messwein roch.
»Gib ihn mir wieder«, flehte sie flüsternd, »bitte, gib ihn mir wieder.«
Immer wieder nur diesen einen Satz ohne jede Antwort. Und als sie den Beichtstuhl verließ, war sie davon überzeugt, dass ihre Bitte erhört werden würde.
Beinah euphorisch wanderte sie noch eine halbe Stunde durch den Dom. Als kleines Mädchen hatte sie einmal eine Phase gehabt, in der sie Nonne werden wollte. Vor allem, um die Möglichkeit zu haben, sich jederzeit und jeden Tag in solch beeindruckenden Kathedralen aufhalten zu können. In riesigen Kirchen war sie schon immer glücklich gewesen.
Vor dem Petersdom stieg sie in ein Taxi. Sie hatte keine Lust mehr, mit dem Touristenbus zu fahren, und noch weniger Lust hatte sie zu laufen.
»Zur Spanischen Treppe«, sagte sie zum Taxifahrer, »und bitte, fahren Sie langsam. Ich suche jemanden und möchte mir die Gesichter der Passanten anschauen.«
Den Satz hätte sie sich sparen können, denn der Taxifahrer brauste mit hohem Tempo durch die Stadt und konnte es sich auch nicht verkneifen, riskante Überholmanöver und gefährliche Spurwechsel zu unternehmen.
Magda ärgerte sich und gab ihm kein Trinkgeld.
Eigentlich hatte sie vorgehabt, auf der Treppe zu sitzen, ein Eis oder einen Crêpe zu essen und die vorbeiziehenden Leute zu beobachten, aber jetzt hatte sie Hunger und glaubte, mit einem Eis im Magen würde ihr übel werden.
Also suchte sie sich eine kleine Trattoria, in der sie sich Farfalle ai funghi e tartuffo bestellte. Schmetterlingsnudeln mit Pilzen und Trüffel. Das Ganze in Sahnesoße.
Während sie aß, starrte sie so intensiv auf die vorbeiflanierenden Gesichter, dass sie nach einer Viertelstunde das Gefühl hatte, jede zweite Person zu kennen, sie zumindest schon einmal gesehen zu haben. Daher hörte sie schließlich damit auf. Lehnte sich zurück, hielt ihr Gesicht in die heiße Julisonne und dankte dem Himmel, dass sie in diesem Moment in dieser Stadt war und die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft nicht verloren hatte.
Aus der Ferne hörte sie Martinshörner, die näher kamen und akustisch allmählich immer mehr anschwollen. Magda zuckte zusammen. Das durchdringende laute Geräusch machte ihr Angst.
Papa, dachte sie, verdammt noch mal, Papa.
Zwei Monate nach der unangenehmen Begegnung mit Jemand im Flur sagte Anita zu Magda: »Wir werden jetzt drei Wochen lang nicht bei Tante Helga übernachten. Du brauchst also deine Sachen morgen nicht zu packen. Freut dich das?«
»Ja, klar. Aber warum?«
»Papa verreist.«
»Wohin denn?«
»Keine Ahnung. Irgendwohin ans Meer.«
»Mit Jemand?«
»Ja.«
Magda hatte das Gefühl, dass es auch für ihre Mutter eine Art Urlaub war, endlich einmal zu Hause bleiben zu können.
Am nächsten Morgen stand Magdas Vater sehr früh auf. Es war noch dunkel, als er sich anzog, einen Kaffee trank und dann seine Tasche nahm, die ihm Anita gepackt hatte.
»Also dann«, sagte er, »macht’s gut, ihr beiden.«
Er hauchte seiner Frau einen Luftkuss auf die Wange und gab Magda einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Pass auf dich auf, Spatz. Und dass mir keine Klagen kommen.« Er grinste, und Magda grinste zurück. »Ebenfalls«, erwiderte sie. Ihr Vater küsste sie aufs Haar und ging.
Ihre Mutter schloss hinter ihm die Tür und atmete tief durch. Dann sah sie Magda an und lächelte.
Der Anruf von der Autobahnpolizei kam drei Stunden später. Magda und ihre Mutter hatten gefrühstückt, und Magda wollte gerade in die Schule gehen, da sie
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