Die Totengräberin - Roman
wirkte. Man hatte einen fantastischen Blick über die Kargheit der Crète, aber zugleich ein heimeliges Gefühl der Geborgenheit, das die dichten Zypressenwälder vermittelten, die das Kloster umschlossen.
Während der Fahrt war Topo dazu übergegangen, einiges von dem, was er sagte, für Lukas auf Englisch zu wiederholen, wenn Magda es nicht auf Deutsch übersetzte. So bemühte er sich, Lukas in das Gespräch mit einzubeziehen, wofür Lukas dankbar war. Daher hatte sich in der letzten Stunde seine Einstellung zu Topo fast positiv verändert.
Topo parkte seinen Wagen auf dem kleinen Parkplatz unmittelbar vor dem mittelalterlichen Palazzo. Sie gingen über eine Zugbrücke, dann durch das Gebäude hindurch und gelangten so in die weitläufige Klosteranlage.
Während sie auf einer holprigen Kopfsteinpflasterstraße zur Kirche und zum bewohnten Klostertrakt gingen, begann Topo mit seinen Erklärungen.
»Dieses Kloster gründete Bernardo Tolomei Anfang des vierzehnten Jahrhunderts. Er war ein Gelehrter aus Siena und zog sich mit zwei adligen Freunden, Patrizio Patrizi und Amborgio Piccolomini, hier in die Einsamkeit zurück. Sie bauten gemeinsam eine Kapelle und lebten als Asketen nach den Regeln des Benediktiner-Ordens. Wenig später bekamen sie die Approbation des Bischofs von Arezzo, begannen mit dem Bau des Klosters, nannten sich Olivetaner und nahmen weitere Mitglieder auf. Dreizehnhundertachtundvierzig starben fast alle Mönche an der Pest.«
»Mein Gott«, meinte Magda bewundernd, »es ist unglaublich, wie Sie alle Kleinigkeiten und Jahreszahlen vollkommen unvorbereitet parat haben! Wie kommt das? Wie machen Sie das? Sind Sie ein wandelndes Lexikon?«
Topo lächelte geschmeichelt. »Nein, aber ich interessiere mich für diese Dinge. Und was einen interessiert, kann man sich auch merken.«
Bei der anschließenden Kirchenbesichtigung redete Topo, nicht zuletzt durch Magdas Bemerkung hochmotiviert, unentwegt. Magda machte ein interessiertes Gesicht, nickte hin und wieder und hörte nicht zu. Als Topo merkte, dass sie unkonzentriert war, hielt er seine Vorträge nur noch für Lukas auf Englisch.
Magda ließ die beiden allein, saß unterdessen in einer der hinteren Kirchenbänke und dankte dem Himmel für ihr erfülltes Leben. Lass ihn mir, betete sie, oh Herr, bitte lass mir meinen Mann. Er ist alles, was ich habe. Thorben braucht ihn doch auch, jetzt in seinem Alter mehr denn je. Wir sind eine so wunderbare Familie, wir drei. Die beiden
machen mich glücklich und geben meinem Leben einen Sinn. Der Gedanke, dass ich sie verlieren könnte, macht mir Angst. Ich könnte ohne sie nicht leben.
Sie sah Lukas, der völlig versunken in der Kuppel die »Himmelfahrt Mariens« von Jacopo Ligozzi betrachtete und sich dazu Topos Erklärungen anhörte, und sie liebte ihn in diesem Moment so sehr, dass ihr die Tränen in die Augen traten.
Magda spendete noch zwei Kerzen und schickte dabei ein Stoßgebet zum Himmel. Lass alles so bleiben, wie es ist, flehte sie, bitte lass es, es ist gut so.
Anschließend folgte sie Topo und Lukas in den Kreuzgang, um die Fresken aus dem Leben des heiligen Benedikt zu betrachten, wahrscheinlich einen der schönsten Freskenzyklen der Renaissance.
»Hier im Kreuzgang sehen Sie fünfunddreißig Gemälde«, begann Topo, »und das Besondere daran ist, dass sie von zwei sehr unterschiedlichen Künstlern gemalt worden sind, obwohl sie zusammen ein so harmonisches, stimmiges Bild abgeben, und es würde einem nicht auffallen, wenn man es nicht wüsste. Hier beginnt die optische Reise durch das Leben des heiligen Benedikt. Auf diesem ersten Bild sehen Sie, wie er sein Elternhaus auf einem weißen Pferd, begleitet von seiner Amme Cirilla, verlässt. Die Stadt im Hintergrund ist Norcia, in Umbrien. Die Fresken eins bis neunzehn und dreißig bis fünfunddreißig stammen von Antonio Bazzi, genannt Sodoma, die übrigen von Luca Signorelli. Sodoma war ein Verrückter. Er hielt in seinem Haus Affen und Ziegen, Esel, Meerkatzen, Tauben, Papageien und Schlangen, aber vor allem hatte er immer Knaben bei sich, die er missbrauchte. Dies war ein offenes Geheimnis, und aus diesem Grunde wurde er auch Sodoma
genannt. Die Mönche wussten von seinem ausschweifenden Leben, sie nannten ihn Mattaccio, Verrückter, und duldeten ihn.«
Magda war sprachlos. Topo wiederholte das Ganze für Lukas auf Englisch und war gespannt auf dessen Reaktion.
Lukas reagierte gar nicht. Er hatte keine Lust mehr, sich Topos Vorträge
Weitere Kostenlose Bücher