Die Totengräberin - Roman
ein Mensch ohne einen Grund spurlos verschwindet?«
»Wir wissen nicht, was wir noch machen sollen, Mama«, sagte Lukas betont ruhig und leise.
»Ich hab den Eindruck, nichts zu erfahren. Jedenfalls nicht die Wahrheit!« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Jedenfalls kann ich nicht länger hier herumsitzen und so tun, als wäre nichts passiert. Ich kann nicht mehr darauf warten und hoffen, dass er vielleicht doch noch vollkommen unerwartet und aus irgendeinem Grund wieder auftaucht, Lukas. Das kann ich nicht. Da werde ich verrückt. Ich gehe zur Polizei. Ich gebe eine Vermisstenanzeige auf. Vielleicht tun ja die deutschen Behörden was. Irgendeiner muss sich doch drum kümmern!«
»Die können nichts tun. Glaub mir. Sie können höchstens mit den Italienern Kontakt aufnehmen, aber das ist ein bürokratischer Akt, der dauert ewig und bringt nichts, weil der Schrieb auf irgendeinem Schreibtisch in Mailand, Neapel oder Rom verschimmeln wird. Da sind wir hier viel näher dran und können immer wieder bei den Carabinieri nachfragen und mit unserer Hartnäckigkeit nerven.«
Hildegard nickte stumm.
»Ich werde jedenfalls in Italien bleiben, solange Magda mich braucht«, fügte Lukas hinzu. »Vielleicht verlängert sie sogar ihren Urlaub. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass sie ohne Johannes nach Deutschland zurückkehrt.«
»Ja«, murmelte Hildegard. »Ja, sicher.« Sie brauchte ihn auch. Vielleicht sogar mehr als Magda. Komm her, flehte
sie in Gedanken, bitte, komm zu mir! Aber sie sagte es nicht.
»Bist du noch da, Mama?«
»Ja, ich bin da.« Der Satz fiel ihr schwer. »Hast du noch Hoffnung?«, flüsterte sie.
»Natürlich hab ich noch Hoffnung!« Lukas sprach lauter und versuchte optimistisch zu klingen. Das konnte er. Das hatte er gelernt. Einen »Lächler« in einen Satz zu legen, war Alltag beim Synchronisieren.
»Noch ist gar nichts passiert, Mama. Und solange wir nichts Gegenteiliges wissen, sollten wir alle davon ausgehen, dass Johannes lebt.«
»Danke für deinen Anruf«, meinte Hildegard matt. »Danke.«
Damit legte sie auf und sackte in sich zusammen. Ihre Schultern fielen nach vorn, sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte.
50
Der Himmel war stahlblau, die Sonne schien, und es wehte ein leichter Wind, der sehr angenehm war und die Hitze erträglich machte. Lukas wusste, dass er sich nicht länger in sein Schneckenhaus zurückziehen durfte, Magda sollte seine Angst und Unsicherheit nicht spüren. Es half auch nichts, weiter über die Fotos beziehungsweise über den großen Unbekannten, der sie ihm geschickt hatte, nachzugrübeln. Er kam nicht weiter und musste machtlos abwarten, was geschah.
Das Haus war abgeschlossen, das Navigationsgerät programmiert, und sie wollten gerade losfahren, als ein schwarzer Citroën die Auffahrt heraufkam.
»Was ist denn nun schon wieder?«, stöhnte Magda. »Ich hab jetzt keine Lust auf irgendwelche Besuche, ich will endlich los.«
Der Citroën hielt vor dem Haus, und Stefano Topo stieg aus. Salopp, aber elegant gekleidet in einer beigefarbenen Leinenhose und einem Hemd aus gleichem Material, nur einen Ton heller. Er schob sich die Designer-Sonnenbrille aufs Haar und lächelte. Offensichtlich war er strahlender Laune.
Auch Magda und Lukas stiegen aus dem Auto.
»Buongiorno«, sagte Topo, »wie ich sehe, habe ich
wieder mal Pech. Sie wollten offensichtlich gerade losfahren?«
»Ja, wir haben einen kleinen Ausflug geplant.«
»Darf ich fragen, wo es hingehen soll?«
»Zur Abbazia Monte Oliveto Maggiore. Wir kommen dort zwar vorbei, wenn wir nach Montalcino fahren, um Wein zu holen, aber wir waren bisher immer in Zeitdruck und haben die Abtei noch nie besichtigt.«
Topo lachte. »Unglaublich! Dieses Kloster muss man einfach gesehen haben, es ist wunderschön, Sie werden beeindruckt sein!«
»Das kann ich mir vorstellen.« Magda wurde langsam ungeduldig. Sie hatte keine Lust auf eine weitere Unterhaltung.
»Was halten Sie davon«, meinte Topo, lehnte sich lässig gegen seinen Wagen und überkreuzte die Beine, »wenn ich Sie begleite? Ich kenne nicht nur die Abbazia Monte Oliveto Maggiore, sondern die gesamte Gegend sehr gut und kann Ihnen sicher das eine oder andere erzählen. Ja, ich glaube, ich bin ein ganz guter Reiseführer.« Er lächelte und setzte die Sonnenbrille wieder auf.
»Was will er?«, fragte Lukas, der nicht alles verstanden hatte.
»Er will mitkommen. Will den Reiseführer machen. Was hältst du davon?«
»Gar nichts.«
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