Die Totenleserin1
Intensität von Liebenden, die durch einen Abgrund getrennt sind.
Sie wich zurück, blies die Kerze aus und tastete blind nach dem Dolch, den sie nachts auf dem Nachttisch liegen hatte, weil siedie Augen nicht von diesem Wesen auf der anderen Flussseite nehmen wollte, aus Angst, es könnte über das Wasser und durchs Fenster gesprungen kommen.
Sobald sie den Stahl in der Hand hielt, fühlte sie sich besser. Lächerlich. Es hätte Flügel haben müssen oder eine Sturmleiter, um an die Fenster zu kommen. Es konnte sie jetzt nicht mehr sehen. Das Haus lag im Dunkeln.
Aber sie wusste, dass es sie beobachtete, als sie die Läden schloss. Sie spürte, wie seine Augen die Mauern durchbohrten, als sie, gefolgt von einem zögerlichen Aufpasser, auf nackten Füßen die Treppe hinunterschlich, um sich zu vergewissern, dass alles verriegelt war.
Zwei Arme hoben eine Waffe über ihren Kopf, als sie die Halle betrat.
»Herrgott!«, sagte Matilda B. »Was denkt Ihr Euch denn bloß, ich wär fast gestorben vor Angst.«
»Danke gleichfalls«, keuchte Adelia. »Drüben am anderen Ufer steht einer.«
Die Magd ließ den Schürhaken sinken, den sie in Händen hielt. »Der ist jede Nacht da, seit ihr alle in der Burg seid. Starrt rüber, starrt immerzu rüber. Und der kleine Ulf ist der einzige Mann hier bei uns.«
»Wo
ist
Ulf?«
Matilda zeigte auf die Treppe zum Untergeschoss. »Schläft tief und fest.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher.«
Gemeinsam spähten die beiden Frauen durch die rosa getönte Fensterscheibe über den Fluss.
»Jetzt ist er weg.«
Es war fast noch schlimmer, dass die Gestalt verschwunden war, als wenn sie noch da gewesen wäre.
»Warum habt ihr mir nichts davon gesagt?«, wollte Adelia wissen.
»Wir haben gedacht, Ihr hättet schon genug zu tragen. Aber der Wache haben wir es gesagt. Hätten wir uns auch sparen können. Die haben nix und niemanden gesehen. Wie denn auch, nach dem ganzen Getöse, mit dem sie über die Brücke gepoltert sind, um ans andere Ufer zu kommen. Die meinen, es wäre ein Glotzer.«
Matilda B ging in die Mitte des Raumes, um den Schürhaken wieder an Ort und Stelle zu legen. Einen kurzen Moment lang vibrierte er gegen die Stangen des Feuerrosts, als ob die Hand, die ihn hielt, so stark zitterte, dass sie ihn nicht loslassen konnte. »Aber es ist kein Glotzer, nich?«
»Nein.«
Am nächsten Tag brachte Adelia Ulf in den Burgturm, wo er bei Gyltha und Mansur bleiben sollte.
Kapitel Dreizehn
I hr werdet
nicht
ohne mich gehen«, sagte Sir Rowley, der sich aus dem Bett quälte und prompt hinfiel. »Au,
aua
, zur Hölle mit Roger aus Acton. Gebt mir ein Beil, und ich hack ihm die Eier ab, ich verfüttere sie an die Fische, ich …«
Adelia und Mansur unterdrückten das Lachen, als sie dem Patienten aufhalfen und ihn zurück ins Bett verfrachteten. Ulf hob die Nachtmütze auf und setzte sie ihm wieder auf den Kopf.
»Mit Mansur und Ulf kann doch gar nichts passieren – und wir sind bei Tag unterwegs«, sagte sie. »Ihr dagegen werdet Euch derweil leichte Bewegung verschaffen. Ein paar Schritte durchs Zimmer, um die Muskeln zu kräftigen, zu mehr seid Ihr noch nicht imstande, wie Ihr gesehen habt.«
Der Steuereintreiber stieß ein frustriertes Knurren aus und schlug mit der Faust auf die Bettdecke, was ein weiteres Stöhnen auslöste, diesmal jedoch vor Schmerz.
»Lasst den Unsinn«, befahl ihm Adelia. »Außerdem hat nicht Acton das Beil geschwungen. Ich weiß nicht genau, wer es war, es ging alles so schnell.«
»Ist mir egal. Ich will ihn hängen sehen, ehe die Assisenrichter einen Blick auf seine blöde Tonsur werfen und ihn laufen lassen.«
»Er gehört bestraft«, sagte sie. Die wilde Meute, die sich Zugang in die Burg verschafft hatte, um Simons Grab zu schänden, war ohne Frage von Acton angestachelt worden. »Aber ich hoffe, er wird nicht gehängt.«
»Er hat eine königliche Burg angegriffen, Frau, er hätte mich um ein Haar kastriert, er sollte über einer kleinen Flamme langsam am Spieß geröstet werden.« Sir Rowley drehte sich ein wenig und sah sie aus den Augenwinkeln an. »Habt Ihr Euch schon einmal gefragt, warum Ihr und ich die Einzigen waren, die bei dem Handgemenge verletzt worden sind? Ich meine abgesehen von den Kerlen, die ich außer Gefecht gesetzt habe.«
Das hatte sie nicht. »Ich hatte bloß eine gebrochene Nase, und das kann man wohl kaum als Verletzung bezeichnen.«
»Es hätte sehr viel schlimmer sein können.«
Richtig, aber es war ein
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