Die Totenleserin1
Hal?«, murmelte Ulf. »Wer war’s?«
Adelia dachte dasselbe. Warum waren die Kinder mitgegangen? Wer auf dem Fluss hatte sie in die Falle gelockt? Wer hatte gesagt: »Kommst du mit?«, und sie waren gefolgt. Die Verlockung durch die Jujuben konnte es nicht allein gewesen sein, es musste jemand sein, den sie achteten, dem sie vertrauten, jemand, den sie kannten.
Adelia setzte sich auf, als eine Gestalt in Mönchskutte vorbeistakte. »Wer ist das?«
Ulf spähte in das schwächer werdende Licht. »Der da? Das ist der alte Bruder Gil.«
Bruder Gilbert, was? »Wo will er hin?«
»Er bringt die Hostie zu den Eremiten. Barnwell hat auch Eremiten, genau wie die Nonnen, und fast alle von denen wohnen weiter oben am Fluss in den Wäldern.« Ulf spuckte aus. »Gran hält nix von denen. Verdreckte alte Vogelscheuchen, sagt sie immer, die mit keinem mehr was zu tun haben wollen. Das ist nich christlich, sagt Gran.«
Dann nutzten die Mönche von Barnwell also genau wie die Nonnen den Fluss, um die Einsiedler zu versorgen.
»Aber es ist doch schon Abend«, sagte Adelia. »Wieso fahren sie so spät noch dahin? Bruder Gilbert ist bestimmt nicht rechtzeitig zur Komplet wieder zurück.«
Die Mönche lebten nach den Glockenschlägen der heiligenStunden. Für die Stadt Cambridge dienten die Glocken tagsüber als Uhr; Verabredungen wurden danach getroffen, Sanduhren umgedreht, Geschäfte begonnen und abgeschlossen; sie riefen die Arbeiter zur Laudes auf die Felder, schickten sie zur Vesper wieder heim. Aber wenn sie nachts schlugen, konnte der schlafende Laienstand schadenfroh im Bett bleiben, während Nonnen und Mönche aus ihren Zellen und Dormitorien treten mussten, um die Nachtgebete zu singen.
Eine erschreckende Schläue breitete sich auf Ulfs unansehnlichem kleinem Gesicht aus. »Deshalb ja«, sagte er. »Dann haben sie mal ’ne Nacht frei. Schlafen sich unter freiem Himmel aus, gehen am nächsten Tag noch ein bisschen jagen oder fischen, besuchen vielleicht auch ’nen Kumpel, das machen die alle so. Die Nonnen nutzen das auch aus, Gran sagt, keiner weiß, was die da eigentlich so im Wald treiben. Aber …«
Plötzlich schaute er sie blinzelnd an.
»Bruder Gilbert?«
Sie blinzelte zurück. »Könnte sein.« Wie verletzlich Kinder doch waren, dachte sie. Wenn Ulf mit all seinem Mutterwitz und seiner Durchtriebenheit sich kaum dazu aufraffen konnte, jemanden zu verdächtigen, den er kannte und der angesehen war, dann waren die anderen leichte Beute gewesen.
»Der ist ein Griesgram, der alte Gil, klar«, sagte das Kind zögernd, »aber zu uns Jungen ist er anständig, und er ist Kreuzfa…« Ulf schlug sich die Hände vor den Mund, und zum ersten Mal sah Adelia ihn fassungslos. »Ach du Schande, der war auf ’nem Kreuzzug.«
Die Sonne war jetzt untergegangen, und die wenigen Boote, die noch auf der Cam unterwegs waren, hatten eine Laterne im Bug, so dass sich der Fluss in eine unregelmäßige Lichterkette verwandelte.
Trotzdem blieben die beiden sitzen, wo sie waren, wollten nicht gehen, vom Fluss angezogen und abgestoßen zugleich, fühltensich den Seelen der Kinder, die er sich geholt hatte, so nahe, dass das Rascheln im Schilf fast wie ihre flüsternden Stimmen klang.
Ulf fragte ihn grollend: »Warum fließt du nicht rückwärts, du Hund?«
Adelia legte ihm den Arm um die Schultern; sie hätte für ihn weinen können. Ja, dreh die Natur und die Zeit zurück. Bring sie nach Hause.
Die Stimme von Matilda W rief sie kreischend zum Abendessen.
»Wie wär’s dann mit morgen?«, fragte Ulf, als sie zum Haus gingen. »Wir könnten den alten Braunkopf mitnehmen, stellt sich ja ganz geschickt an beim Staken.«
»Ich käme gar nicht auf die Idee, ohne Mansur zu gehen«, sagte sie, »und wenn du dich ihm gegenüber nicht respektvoll benimmst, darfst du nicht mit.«
Sie wusste genau wie Ulf, dass sie den Fluss erkunden mussten. Irgendwo an seinen Ufern war ein Gebäude, oder ein Pfad, der zu einem Gebäude führte, wo ein derartiges Grauen geherrscht hatte, dass es sich offenbaren musste.
Bestimmt war außen kein Schild angebracht, das alles preisgab, aber sie wusste, dass sie es erkennen würde, wenn sie es sah.
In dieser Nacht stand eine Gestalt am gegenüberliegenden Ufer der Cam.
Adelia sah sie durch das offene Sonnenfenster, als sie sich das Haar kämmte, und bekam solche Angst, dass sie sich nicht rühren konnte. Einen Moment lang betrachteten sie und der Schatten unter den Bäumen einander mit der
Weitere Kostenlose Bücher