Die Totenleserin1
Versehen gewesen, in gewisser Weise ihre eigene Schuld, weil sie sich so unbedacht ins Getümmel gestürzt hatte.
»Außerdem«, sagte Rowley noch immer verschlagen, »ist der Rabbi unverletzt geblieben.«
Sie war verwirrt. »Verdächtigt Ihr die Juden?«
»Natürlich nicht. Ich weise nur darauf hin, dass der gute Rabbi nicht Ziel des Angriffs war. Ich will damit sagen, dass jetzt, da Simon tot ist, nur noch zwei Menschen übrig sind, die Nachforschungen über den Tod der Kinder anstellen. Ihr und ich. Und wir wurden verletzt.«
»Und Mansur«, sagte sie geistesabwesend. »Er ist unverletzt geblieben.«
»Die haben Mansur erst gesehen, als er sich ins Kampfgewühl stürzte. Außerdem hat er nirgendwo irgendwelche Fragen gestellt, sein Englisch ist nicht gut genug.«
Adelia dachte darüber nach. »Ich verstehe nicht ganz, worauf Ihr hinauswollt«, sagte sie. »Wollt Ihr sagen, dass Roger aus Acton der Kindermörder ist? Acton?«
»Ich sage, verdammt noch mal –« Körperliche Schwäche machte Rowley reizbar. »Ich sage, dass er dazu angestiftet wurde.Ihm oder einem aus seiner Bande ist eingeflüstert worden, dass Ihr und ich Judenfreunde sind, die tot sein sollten.«
»Seiner Ansicht nach sollten alle Judenfreunde tot sein.«
»Irgendwer«,
sagte der Steuereintreiber zähneknirschend, »irgendwer hat es auf uns abgesehen. Auf
uns
, Euch und mich.« Auf
dich,
o Gott, dachte sie. Nicht auf uns; auf
dich. Du
bist rumgelaufen und hast Fragen gestellt, du und Simon. Auf dem Fest hat Simon dich angesprochen.
»Wir haben ihn, Sir Rowley.«
Sie tastete nach der Bettkante und setzte sich hin.
»Aha«, sagte Rowley, »endlich dämmert’s Euch. Adelia, ich will nicht, dass Ihr im Haus des alten Benjamin bleibt. Ihr könnt doch eine Zeit lang hier bei den Juden wohnen.«
Adelia dachte an die nächtliche Gestalt unter den Bäumen. Sie hatte Rowley nicht erzählt, was sie und Matilda B gesehen hatten. Er konnte nichts dagegen unternehmen, und es wäre sinnlos gewesen, ihn noch mehr zu frustrieren, als er es aufgrund seiner Schwäche ohnehin schon war.
Das Wesen hatte Ulf bedroht; es wollte ein weiteres Kind und hatte sich dieses besondere ausgesucht. Sie hatte es gleich gewusst, und sie wusste es noch immer. Deshalb musste der Junge jetzt die Nächte hinter Burgmauern verbringen und tagsüber stets in Mansurs Nähe bleiben.
Aber, großer Gott, falls das Wesen Rowley als Bedrohung empfand; es war so
schlau,
es hatte Mittel und Wege … zwei Menschen, die sie liebte, waren in Gefahr.
Dann dachte sie: Verdammt, Rakshasa erreicht auf unsere Kosten genau das, was er will, wenn er uns alle in dieser verdammten Burg einsperrt. So finden wir ihn doch nie. Wenigstens ich muss mich ungehindert bewegen können.
Sie sagte: »Ulf, erzähl Sir Rowley deine Theorie über den Fluss.«
»Nee. Der sagt doch nur, das ist Mist.«
Adelia seufzte angesichts der latenten Eifersucht zwischen den beiden Männern in ihrem Leben. »Erzähl’s ihm.«
Der Junge tat es, aber mürrisch und ohne Überzeugungskraft. Und Rowley reagierte abschätzig darauf. »In dieser Stadt ist doch jeder in Flussnähe.« Und von Bruder Gilbert als Verdächtigem hielt er ebenso wenig. »Ihr denkt, er wäre Rakshasa? Ein klappriger Mönch wie der käme ja nicht einmal über die Heide von Cambridge, geschweige denn durch die Wüste.«
Die Argumente gingen hin und her. Gyltha kam mit Rowleys Frühstückstablett herein und beteiligte sich an der Debatte.
Das Gespräch wirkte sich beruhigend auf Adelia aus, obwohl es sich um entsetzliche Dinge und Verdächtigungen drehte. Sie waren ihr ans Herz gewachsen, diese Menschen. Das Wortgeplänkel mit ihnen, selbst über Leben und Tod, war für sie, die dergleichen nie erlebt hatte, so wohltuend, dass sie ein jähes Glücksgefühl empfand.
Hic habitat felicitas.
Und was den großen, unvollkommenen, wunderbaren Mann in dem Bett anging, der sich gerade Schinken in den Mund stopfte, so hatte er ihr gehört; sein Leben hatte ihr gehört, nicht so sehr wegen ihres Sachverstandes, sondern wegen der Kraft, die aus ihr in ihn hineingeflossen war, eine erflehte und gewährte Gnade.
So betörend diese Liebe auch für sie war, sie war leider vollkommen einseitig, und sie würde sich für den Rest ihres Lebens damit begnügen müssen. Jeder Augenblick in seiner Gegenwart bestätigte nur, wie verderblich es wäre, ihm ihre Anfälligkeit zu zeigen. Er würde sie entweder zurückweisen oder versuchen, sie auszunutzen, was noch
Weitere Kostenlose Bücher