Die Totenleserin1
erzählt hätte, was sie getan hat! Und ich weiß, was die beiden dem Jungen angetan hätten, wenn der gütige Herr dich nich geschickt hätte, um sie aufzuhalten. Was sie den anderen angetan haben …« Ihre Augen wurden zu Schlitzen, und sie stand auf. »Komm, wir beide gehen nach nebenan und drücken ihr ein Kissen aufs Gesicht.«
»Nein. Die Welt muss erfahren, was sie getan hat, was
er
getan hat.«
Rakshasa war der Gerechtigkeit entronnen. Sein schreckliches Ende – Adelia verdrängte den Gedanken an den Anblick vor dem Morgenhimmel – war keine Gerechtigkeit gewesen.
Dieses Scheusal vom Antlitz der Erde zu tilgen, die es beschmutzt hatte, konnte den Berg kleiner Körper nicht aufwiegen, den es auf seinem Weg vom Heiligen Land zurückgelassen hatte.
Selbst wenn sie es gefangen, vor Gericht gestellt und hingerichtet hätten, wäre die Waage der Gerechtigkeit für diejenigen, denen die Kinder entrissen worden waren, ungleich geblieben, aber zumindest hätten die Menschen erfahren, was es getan hatte. Und sie hätten gesehen, wie es dafür bezahlen musste. Die Juden wären öffentlich entlastet worden. Und vor allem wäre das Gesetz gewahrt worden, das aus Chaos Ordnung entstehen ließ, das die zivilisierte Menschheit von Tieren unterschied.
Während Gyltha ihr beim Anziehen half, erforschte Adelia ihr Gewissen und fragte sich, ob sie ihre Ablehnung der Todesstrafe aufgegeben hatte. Nein, das hatte sie nicht. Es war ein Prinzip. Die Verrückten mussten sicher verwahrt werden, keine Frage, aber nicht von Rechts wegen getötet. Rakshasa war der Bloßstellung vor Gericht entgangen. Seine Mittäterin durfte das nicht. Ihre Taten mussten vor aller Augen und Ohren enthüllt werden, so dass die Welt wieder ins Gleichgewicht kam.
»Sie muss vor Gericht gestellt werden«, sagte Adelia.
»Meinst du, das wird passieren?«
Es klopfte an der Tür, und Prior Geoffrey trat ein. »Mein liebes Kind, mein armes, liebes Kind. Ich danke dem Herrn für Euren Mut und Eure Errettung.«
Sie kam gleich zur Sache. »Prior, die Nonne … Sie war seine Komplizin. Und eine Mörderin wie er. Sie hat Simon aus Neapel getötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Das glaubt Ihr mir doch, oder?«
»Leider muss ich das. Ich habe mir Ulfs Schilderung angehört,und obwohl er von irgendeinem Schlafmittel, das sie ihm verabreicht hat, noch immer ein wenig verwirrt war, besteht kein Zweifel, dass sie ihn an jenen Ort verschleppt hat, wo sein Leben bedroht wurde. Ich habe mir auch angehört, was Sir Rowley und der Jäger zu erzählen hatten. Heute Abend war ich mit ihnen in diesem Loch …«
»Ihr wart auf dem Wandlebury?«
»Ja«, sagte der Prior müde. »Hugh hat mich hingeführt, und nie war ich der Hölle näher. Himmel, was für Geräte wir dort fanden. Man kann nur froh sein, dass Sir Joscelins Seele in alle Ewigkeit von Flammen verzehrt wird.
Joscelin …«
Die Betonung sollte ihm helfen, es zu glauben. »Ein Junge von hier. Ich hatte ihn als zukünftigen Sheriff ausersehen.« Ein Funke der Entrüstung brachte Leben in die trüben Augen des Priors. »Ich habe sogar eine Spende für unsere neue Kapelle aus diesen abscheulichen Händen angenommen.«
»Das Geld der Juden«, sagte Adelia. »Er schuldete es den Juden.«
Der Prior seufzte. »Wohl wahr. Nun, zumindest sind unsere Freunde im Turm jetzt von allen Vorwürfen befreit.«
»Wird die Stadt das auch erfahren?« Adelia deutete mit dem Daumen auf das Zimmer, in dem die Nonne untergebracht war. »Wird
sie
vor Gericht gestellt werden?« Sie wurde unruhig. Manche Antworten des Priors waren zurückhaltend, ausweichend.
Er trat ans Fenster und öffnete die Läden einen Spalt. »Die Leute haben gesagt, es würde Regen geben. Das Morgenrot war wahrhaftig der Schlechtwetterbote. Nun, nach dem trockenen Frühjahr kann der Garten den Regen gut gebrauchen.« Er schloss den Fensterladen wieder. »Ja, die Assise – Gott sei Dank ist sie noch nicht beendet – wird die Unschuld der Juden in einer öffentlichen Erklärung bekannt geben. Aber bezüglichder … Frau … Ich habe um eine Versammlung aller Betroffenen gebeten, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Sie wird in Kürze beginnen.«
»Eine Versammlung? Warum kein Gericht?« Und warum zu nächtlicher Stunde?
Er überging ihre Frage und sagte: »Ich hatte erwartet, dass man sich in der Burg versammeln würde, doch der Protokollführer der Assise war der Ansicht, eine derartige Untersuchung sollte besser hier stattfinden, damit die
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