Die Totenmaske
registrierte sie einen leichten Hauch von Formalin. Das Konservierungsmittel war ihr durchaus vertraut, auch wenn sie für ihre Arbeit auf das weniger gesundheitsschädliche Ethanol zurückgriff. In den gerichtsmedizinischen Labors roch es ständig nach Formaldehyd. Übelkeit erzeugte der Geruch normalerweise nicht mehr bei ihr, und wie ein Seitenblick auf Leon zeigte, schien auch er damit vertraut zu sein. Was in ihr jedoch den Reflex auslöste, nur noch durch den Mund zu atmen, war ein widerliches Gemisch aus zahlreichen Gerüchen, von denen nur einige als Folge eines dauerhaft vernachlässigten Haushalts gewertet werden konnten.
»Herr Ziller, wir sind auf der Suche nach Josh.«
Ihre Hoffnung, der Mann wäre nur eingenickt und würde jeden Moment aufwachen, um sie zu beschimpfen, weil sie in seine Hütte eingedrungen waren, erfüllte sich nicht. Neben Zoe entsicherte Leon seine Waffe und blieb an der Tür zurück.
Eisige Schauer krochen über Zoes Rücken, als sie langsam auf den Sessel zuging. Plötzlich taumelte sie einen Schritt zurück und stieß einen Schreckenslaut aus. Vor ihr erblickte sie die stark verweste Leiche von Joshs Vater im Sessel. Das Licht aus dem Fernseher flackerte über die ledrige ausgegerbte Haut des Toten. Da dem Körper offenbar jede Flüssigkeit entzogen worden war, entblößte ein bizarres Grinsen das unvollständige Gebiss des Mannes. Die eingefallenen Augen waren von faltigen Lidern bedeckt. Pergamentartige Haut spannte sich über den Schädel, auf dem strähnige Haarflusen sich hartnäckig hielten.
»Ist er tot?« Leon stand noch hinter dem Sessel und trat nun zögernd näher.
»Und wie!«
Zoe beugte sich leicht vor. Der Geruch von Formalin strömte neben den üblichen Verwesungsgerüchen aus jeder Pore des Leichnams. Der goldene Ehering wurde mehr von der Sessellehne als von dem spindeldürren Finger an Ort und Stelle gehalten. Behutsam strich Zoe über die Hand, um die Konsistenz der Haut zu überprüfen. Ledrig mit wenig Widerstand wie eine Dattel. Sie ignorierte das flaue Gefühl im Magen bei dem Gedanken an Dörrobst.
Unter dem Sesselrand lugte das hintere Ende einer übergroßen Einwegspritze hervor. Mit Hilfe eines herumliegenden Lappens griff sie danach und hielt sie hoch.
»Ein Kolbenprober?« Leon ließ seine Waffe sinken.
»Ist einfacher zu besorgen als medizinische Instrumente.« Zoe bückte sich erneut, um unter den Sessel zu sehen. Mit einem Seufzer zog sie eine kleinere metallene Spritze hervor und betrachtete sie von allen Seiten. »Es sei denn, man klaut sie aus meinem Behandlungsraum.« Kopfschüttelnd ließ sie die Spritze in eine von Leons Beweismitteltütchen fallen, die er ständig im richtigen Moment aus irgendeiner Tasche zu ziehen schien.
»Wie es aussieht, hat hier jemand auf laienhafte Weise versucht, den Körper zu mumifizieren, ohne dabei die fachmännischen Aspekte der Einbalsamierung zu beachten.«
Hinter ihr gab Leon einen unbestimmbaren Laut von sich. Zoe hielt die Luft an, während sie das Gesicht des Toten aus der Nähe betrachtete. Mit der Taschenlampe beleuchtete sie die Nase. »Kein Wunder, dass es nicht funktioniert hat!«
»Was meinst du damit?«, fragte Leon.
Zoe war nicht aufgefallen, dass sie ihre Gedanken laut aussprach. »Genau kann ich es nicht bestimmen, doch es sieht danach aus, als wäre der Kopf mit einer Formalinlösung ausgespritzt worden, allerdings ohne vorher das Gehirn zu entnehmen.« Sie deutete auf die Nasenlöcher. »Wie du sehen kannst, gibt es hier keine Spuren einer künstlichen Erweiterung oder von Rissen, die entstehen, wenn man die Hirnhaut aufschneidet, bevor man das Gehirn verquirlt, um es zu entnehmen.«
»Wie beruhigend, dass die Spurensicherung keine breiige Gehirnmasse aus den Nasenlöchern puhlen muss!«, entgegnete Leon indigniert.
Zoe nickte ihm kurz zu und widmete sich wieder ihrer Untersuchung. Was hätte sie darum gegeben, in ihrem Behandlungsraum mit vernünftiger Beleuchtung zu stehen! So konnte sie sich nur auf ihre Vermutungen stützen. Außerdem musste sie darauf achten, möglichst wenig anzurühren, um keine Spuren zu verwischen. Sie wusste, dass die kleinste Veränderung an der Lage des Toten zu massiven Fehlurteilen bei der ersten Leichensichtung führen konnte.
Ihr Blick schweifte über den Körper der Leiche. Beinahe entspannt lehnte der Mann in seinem Sessel. Die Kleidung schien in ordentlichem Zustand, wenn sie auch im Laufe der Liegezeit arg verstaubt war. Zoe war keine Ärztin,
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