Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
Vom Netzwerk:
doch schätzte sie grob, dass der Zeitpunkt des Todes mehr als ein Jahr zurücklag. Selbst ein erfahrener Totenbeschauer hätte seine Schwierigkeiten. Hier handelte es sich um einen fortgeschrittenen Verwesungsprozess, der jedoch vom eingespritzten Formalin stark gehemmt worden war. Sie hob das Hemd des Toten hoch, um den Bauchbereich nach Schnitten oder Wunden zu untersuchen. Außer der schwarz gegerbten Hautfläche war nichts zu sehen. Sie ging davon aus, dass die inneren Organe sich noch im Körper befanden.
    »Unfassbar …«, stammelte Zoe, plötzlich ergriffen von Joshs unvollendetem Werk. »Das war also der Grund für sein Interesse an meiner Arbeit!«
    Sie schüttelte den Kopf. Niemals hätte sie für möglich gehalten, dass ihr bester Freund zu so etwas in der Lage war. Anscheinend verbarg sich hinter seiner verletzlichen Fassade noch eine ganz andere, dunkle Seite. Wenigstens hatte er Skrupel, den Unterbauch seines Vaters aufzuschneiden, um die Organe zu entnehmen.
    »Kannst du ihn als Vater von Josh Ziller identifizieren?«, erkundigte Leon sich.
    Zoe nickte. »Ich habe ihn zwar erst ein paarmal gesehen, und viel Ähnlichkeit ist nicht mehr festzustellen, aber ich bin mir da ziemlich sicher.«
    »Damit wäre klar, warum der Junge abgehauen ist – was auch immer er mit dem Dreifachmord zu tun hat oder nicht. Das hier geht ganz sicher auf seine Kappe.«
    Zoe musste ihm recht geben. Vermutlich war Joshs Vater nicht getötet worden, sondern eines natürlichen Todes gestorben. Bestätigen mussten das jedoch letztlich die Gerichtsmediziner. Aus welchen Gründen Josh versucht hatte, seinen Vater zu mumifizieren und in einem Fernsehsessel aufzubahren, war ihr schleierhaft. Fakt war jedoch, dass jeder Todesfall grundsätzlich meldepflichtig, eine Unterlassung strafbar war.
    Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. »Ich verstehe nicht, warum er das getan hat.«
    »Seinen Vater umzubringen oder ihn zur Mumie zu machen?«
    Leon bewegte sich auf ein angrenzendes Nebenzimmer zu. Die Endgültigkeit in seiner Stimme verärgerte Zoe. Nicht zuletzt, weil sie sich plötzlich nicht mehr sicher war, ob sie ihren langjährigen Freund wirklich so gut kannte, wie sie geglaubt hatte.
    »Ich meinte den Versuch, seinen Vater hier aufzubahren. Es könnten sentimentale Gründe dahinterstecken. Josh hat sonst niemanden. Es muss für ihn ein Schock gewesen sein, plötzlich völlig allein dazustehen. Vielleicht war das seine Art, mit dem Verlust umzugehen.«
    Das klang selbst in Zoes Ohren ziemlich abstrus, doch eine andere Idee, um Joshs Verhalten zu erklären, hatte sie nicht. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, während sie den toten Mann betrachtete.
    »Oder einfach der Versuch, weiterhin von Papas Rente zu leben«, gab Leon zurück.
    Verdutzt blickte Zoe ihn an. Was für ein seltsamer Gedanke! Bei näherer Betrachtung durchaus nachvollziehbar, wenn man versuchte, sich in Joshs Lage zu versetzen. Zwar war das in keinster Weise entschuldbar, musste aber nicht zwingend ein Mordmotiv darstellen.
    »Ich kann aber keine Anzeichen für einen gewaltsamen Tod feststellen«, widersprach sie beinahe trotzig.
    Leons treffende Bemerkung trug trotzdem dazu bei, dass leise Zweifel an Joshs Unschuld in ihr aufkeimten.
    »Das konnte man bei den anderen dreien auch nicht«, erwiderte Leon abwesend.
    Entnervt schnaubte Zoe. Damit hatte Leon allerdings recht. Unwillkürlich zog sie mit spitzen Fingern den Hemdkragen des Toten vor und beleuchtete den Brustbereich. Auf den ersten Blick waren keine Einstiche zu sehen. Das Gefühl von Genugtuung hielt jedoch nicht lange an. Leons Schritte im Nebenzimmer klangen, als würde er über sandigen Boden laufen. Anscheinend hatte irgendetwas in der staubigen Höhle seine Aufmerksamkeit erregt.
    »O Mann!«, hörte sie Leon. »Das solltest du dir ansehen.«
    Alarmiert folgte Zoe seiner Stimme. Das winzige Zimmer verdiente diese Bezeichnung kaum. Es war eine fensterlose Kammer, deren spärliches Mobiliar aus einer Pritsche in der Mitte und einer Anrichte bestand. Von der Decke baumelte eine nackte Glühlampe wie ein groteskes Spotlight, das in unregelmäßigem Wechsel die Fotos und Poster an den Wänden beleuchtete. Bestürzt blieb Zoe im Raum stehen und versuchte, zu begreifen, was ihre Augen ihrem Gehirn vermittelten.
    Die Kammer war von oben bis unten mit Fotos von ihr beklebt, wovon ihr die meisten vollkommen unbekannt waren. Sogar von der Zimmerdecke blickten ihre eigenen Augen von einem Poster herab. Manchmal

Weitere Kostenlose Bücher