Die Totenmaske
auf. Seit Boris’ Beisetzung hatte Zoe dessen Eltern nicht wiedergesehen und dem heutigen Tag mit gewissen Bedenken entgegengeblickt. War die Bestattungsfeier auch völlig reibungslos abgelaufen, gaben die neueren Erkenntnisse im Todesfall von Boris genügend Anlass zur Sorge. Von einkehrendem Frieden und stiller Trauerbewältigung waren die Nauens meilenweit entfernt.
Dagegen ließen sich die meisten Leute gern ablenken, wenn es darum ging, ein spektakuläres Gesprächsthema mit einem noch brisanteren zu toppen. Nicht einmal die Hälfte der geladenen Gäste war zur Einweihung des Kolumbariums erschienen. Doch Zoe genügten die knapp fünfzig Augenpaare, um ihr Lampenfieber zu entfachen. Ihr war die Ehre zugefallen, sich um die künstlerische Gestaltung der Grabnischen zu kümmern. Bereits jetzt lagen ihr die ersten Aufträge für Miniaturtotenmasken vor, mit denen die Hinterbliebenen die Urnennischen anstelle von Fotos schmücken wollten. Über dieses neue Betätigungsfeld freute sie sich – vor allem, nachdem ihre Probeentwürfe besser gelungen waren als erwartet.
Erleichtert schloss Zoe ihre Rede und nickte den verhalten applaudierenden Zuhörern entgegen. Frau Nauens fiebrig glänzende Augen hatten sie die ganze Zeit über fixiert wie Röntgenblicke. Jetzt lösten sie sich endlich von ihr, weil sich die ersten Gäste in Frau Nauens Blickfeld schoben. Gefolgt von einer Reihe Danksagungen für die großzügige Spende und die damit zusammenhängende Bereicherung für die Gemeinde, verschwand Boris’ Mutter in der Menge. Immer noch zu sehen war der rosa Puschel auf ihrem Hut, der bei jedem Nicken freudig vor sich hin schaukelte. Catering-Mitarbeiter eilten herbei, reichten Sekt und Orangensaft auf Silbertabletts.
Zoe atmete tief durch, griff dankbar nach einem Glas und zog sich aus dem geselligen Treiben zurück. Eine Rede zu halten stellte für sie schon das äußerste Entgegenkommen dar. Sich an allgemeinem Small Talk zu beteiligen, wäre eindeutig zu viel verlangt gewesen. Außerdem wollte sie nicht den Nauens in die Arme laufen, was sich aufgrund ihrer gemeinsamen Arbeit an dem Projekt früher oder später ergeben würde.
Zoe umrundete die haushohe Urnenwand, hinter der sich ein schmaler Pfad mit angrenzender Hecke befand. Dabei strich sie mit ihren Fingerspitzen über das solide Gestein und bewunderte die architektonische Umsetzung ihrer Vorschläge. Ganz bewusst hatte sie sich für eine Außenanlage ausgesprochen und dafür den ältesten Teil des Friedhofs gewählt. So vermittelten die geraden Linien weniger den Eindruck eines Taubenhauses, sondern wirkten wie eine pietätvolle letzte Anlaufstelle für die Hinterbliebenen. Zoe gefiel die Vorstellung einer Ruhestätte unter freiem Himmel besser, als die von einer dunklen Gruft. Je weiter sie den langen Gang entlangschritt, desto mehr dämmte die massive Mauer die Geräusche. Langsam akklimatisierte Zoe sich im Schatten und konnte ihre Gedanken schweifen lassen.
Der erste Prozesstag war für diese Woche anberaumt, was überraschend schnell gegangen war. Vermutlich lag es an der Brisanz des Falles, oder Herr Nauen hatte wieder seine Finger im Spiel und mit seinen Beziehungen Druck ausgeübt. Ganz Birkheim und vermutlich das halbe Emmelshausen würden sich im Gerichtssaal versammeln, um der Verurteilung von Josh beizuwohnen. Es nagte an Zoes Gewissen, dass sie Josh noch nicht besucht hatte. Rückblickend betrachtet, deutete sein ganzes Verhalten darauf hin, dass er irgendetwas verschwieg. Seine ablehnende Haltung konnte nicht nur aus seiner Verhaftung resultieren. So reagierte er immer, wenn ihn etwas bedrückte. Wie früher, wenn er in der Schule gemobbt worden war, aber zögerte, Zoe davon zu erzählen. Vielleicht gab es auch etwas, woran er nicht dachte, was ihm unwichtig erschien. Von Leon wusste sie, dass jedes noch so kleine Detail von Bedeutung sein konnte.
Unwillkürlich musste Zoe an Leon denken, obwohl sie versucht hatte, das zu verhindern. Wieder zog stummer Groll in ihr auf, weil er sich nicht meldete. In der vergangenen Woche hatte sie ein wenig Abstand gewinnen können. Die erste Wut war verraucht, die Blamage hatte sich in Grenzen gehalten. Dank Leon. Er hatte dafür gesorgt, dass ihr sämtliche Fotos übergeben wurden, indem er an ihr Persönlichkeitsrecht erinnerte und seine Kollegen von der Nutzlosigkeit der Bilder als Beweismittel überzeugte.
In Aufruhr versetzte sie allerdings die Tatsache, dass nun Funkstille herrschte, obwohl sie
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