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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
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Leon gebeten hatte, einen Besuchstermin in der Jugendvollzugsanstalt zu erwirken. Gleichzeitig war sie nicht sicher, ob sie dazu schon bereit war. Weder was ein Wiedersehen mit Leon betraf noch den Besuch bei Josh. Aber vielleicht hatte Leon noch keinen Richter sprechen können. Wenn es so weit war, würde sie schon von ihm hören. Sie musste sich zwingen, nicht weiter darüber nachzudenken, wie ihr Leben in der letzten Zeit aus der Bahn geraten war. Scheinbar nichts war seit den Mordfällen mehr wie zuvor. Als ob das nicht genügt hätte, überschlugen sich in regelmäßigen Abständen die Ereignisse. Dazu raubten ihr ihre Gefühle für Leon die Ruhe. Sie hatte wirklich gedacht, wenn sie sich länger nicht sehen würde, verginge diese zehrende Sehnsucht.
    Mit einem Seufzen machte sie kehrt, um den Pfad zurückzulaufen. Mittlerweile waren die meisten Besucher gegangen. Die Catering-Leute waren dabei, die Klappstühle wegzuräumen. Zoe nutzte die Ruhe, um die eindrucksvolle Front des Kolumbariums zu betrachten. Stolz erfüllte sie. Die Arbeit war das Einzige, worauf sie sich verlassen konnte.
    Ein Windstoß bewegte die Baumkronen. Blätter raschelten. Zunächst glaubte Zoe an eine Täuschung, als sie aus den Augenwinkeln Leon kommen sah. Eine heiße Welle schoss durch ihren Körper, verwandelte ihre Knie in weiches Wachs und ließ das Trugbild zur Realität werden. Schnell stellte sie ihr Glas auf einem der Tabletts ab und strich mit den Händen über ihren Rock.
    »Oh, hallo«, brachte sie überrascht hervor.
    »Ich habe die kryptischen Andeutungen deiner Mutter entschlüsselt, und da bin ich!«, erkläre Leon lächelnd.
    »Darauf kannst du echt stolz sein. Mutter würde es glatt fertigbringen, zu behaupten, ich sei nach Timbuktu ausgewandert.«
    Leon ließ seinen Blick über die Rundmauer streifen und blieb an einer Miniaturtotenmaske hängen. »Du warst daran beteiligt?«
    Zoes Wangen fingen an zu glühen. »Ich habe die künstlerische Gestaltung übernommen. Die Herstellung von Totenmasken ist mein Nebenerwerb. Dabei kam mir die Idee für diese kleinen Duplikate.«
    Er fuhr mit der Hand über das Mauerwerk. »Ist das ein einträgliches Geschäft?«
    »Ich bin zufrieden, zumal diese uralte Kunst für mich in erster Linie ein Hobby darstellt. Mir gefällt, dass diese Tradition durchaus noch gefragt ist.«
    Vor lauter Nervosität geriet sie ins Plappern. Wenigstens löste sich der Knoten in ihrer Kehle. Dabei wusste sie nicht einmal, ob Leon schon von Totenmasken gehört hatte. Wenn überhaupt, dachten die meisten Menschen bei Totenmasken an die Goldmasken des Agamemnon oder Tutanchamun, wobei es sich bei den bekannten Beispielen aus der Antike nicht einmal um Totenmasken handelte, weil sie nach dem Abbild der Toten als frei geschaffene Plastiken entstanden waren. Die Geschichte der Totenmasken reicht bis in die Jungsteinzeit zurück. Die wahre Kunst der Herstellung eines Abbildes im Tode bestand in einem aufwendigen Verfahren, bei dem mehrere Gipsschichten auf das Gesicht einer gerade verstorbenen Person aufgetragen wurden, um eine Negativform aus Gips herzustellen. Diese Schale wurde dann mit einem Wunschmaterial ausgegossen, so dass aus dem nun gewonnenen Positiv später eine Büste oder ein Bildnis gefertigt werden konnte. Während des Klassikzeitalters erfreuten sich Totenmasken großer Beliebtheit, es war damit leichter, sich an den Verstorbenen zu erinnern. Aufgrund ihrer ursprünglichen dämonenabwehrenden Aufgabe verschwanden die Totenmasken beinahe von der Bildfläche. Erst im neunzehnten Jahrhundert erkannte man ihre Bedeutung für die Kunst. Ebenso lösten verschiedene Materialien wie Bronze oder Gips das kostspielige Gold ab. Dennoch waren Totenmasken beliebte Prestigemerkmale und dem gehobenen Bürgerstand vorbehalten. Mittlerweile gab es in Deutschland etwa hundertfünfzig Bestattungsunternehmen, die Totenmasken anboten. Die Aufträge erhielten eine Handvoll Porträtbildhauer. Zoe betrachtete sich als einen davon. Allerdings würden Totenmasken wohl nie ein Massenprodukt werden, was nicht nur mit der wirtschaftlichen Lage einherging. Es fehlte einfach noch das Bewusstsein für dieses Ritual.
    »Eindrucksvoll.« Leon beugte sich vor, um das kleine Keramikgesicht aus der Nähe zu betrachten.
    »Ach, wirklich?«
    Meine Güte! Gab es hier nichts, woran Zoe sich abstützen konnte? Es wäre einfacher gewesen, wenn er sich so distanziert verhalten hätte wie bei ihrem letzten Treffen.
    »Ja, wirklich, obwohl

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