Die Totenmaske
Geschickte Ablenkungstaktik eines Massenmörders oder ein großangelegtes Schulprojekt für Biologie? Wahrscheinlich traf das Zweite zu, was die Hintergründe auch nicht mehr beleuchtete. Leon seufzte.
Dann plötzlich glaubte er, etwas zu sehen, wie eine Ahnung im Vorbeirauschen. Ehe er es bemerkte, war er schon vier Bilder weitergesprungen. Ruckartig richtete er sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung auf, fluchte kurz über seine kribbelnde Hand und starrte gebannt auf das Foto. In der unteren Ecke blitzte noch ein Stück Kotflügel des gelben Chevrolets, ansonsten schien die Kamera eher zufällig in die Richtung des Aufstiegs zu zeigen, von dem nur ein kleiner Ausschnitt zwischen dichtem Gestrüpp zu sehen war – die Stelle, wo der Weg nach unten führte. Die Aufnahme wirkte beinahe willkührlich. Möglicherweise hatte Josh versehentlich den Auslöser gedrückt. Linksseitig im Bild schien der Abhang weniger dicht bewachsen, so dass durch das endlose Grün etwas anderes hindurchschimmerte. Etwas Buntes. Es sah nicht wie Blumen aus, und wenn Leon sich recht erinnerte, wuchsen dort auch keine. Sofort aktivierte er den Encoder mit den entsprechenden Algorithmen, die in der Technik seines Rechners integriert waren. Nach mehreren Einstellungen hatte er die Grenze der technischen Möglichkeiten ausgereizt. Schemenhafte Umrisse einer Person erschienen hinter dichtem Blattwerk. Leon fluchte leise, weil sein Blick verschwamm. Er rückte den Stuhl etwas weg, um den Monitor aus der Entfernung zu betrachten.
Aufregung durchflutete ihn, als er die Gestalt einer Frau mit langem dunklem Haar zu erkennen glaubte. Plötzlich überkam ihn das drängende Gefühl, Zoe die Bilder zeigen zu wollen. Sie würde die Aufnahme aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Und wer weiß? Vielleicht hatte sie sogar eine Idee, um wen es sich bei der Frau handeln könnte. Auch wenn die Darstellung mehr dem Infrarotfoto eines Parapsychologen ähnelte. Allein darüber weiter zu grübeln, machte Leon ganz hibbelig. Er war schon aufgesprungen, als ein flüchtiger Blick auf die Uhr ihn zur Vernunft rief. Es war mitten in der Nacht. Er war todmüde, auch wenn der kurze Adrenalinschub ihm vorgaukelte, dem wäre nicht so. Ein paar Stunden Schlaf waren jetzt dringend nötig, sonst würde er noch wirklich anfangen, Gespenster zu sehen. Morgen früh konnte er immer noch nach Birkheim fahren.
Zoe erwachte von einem krampfhaften Zucken in ihrem Hals. In tiefste Finsternis zu starren und sich dabei nicht an seinen Namen zu erinnern, mutete überaus verstörend an. Ihr restliches Bewusstsein hinkte noch etwas hinterher, traf Zoe dann jedoch mit solcher Wucht, dass sie beinahe erneut ohnmächtig geworden wäre. Übelkeiterregender Benzingeruch drang von dem Knebel in ihrem Mund, was sie dazu zwang, ein ständiges Würgen zu unterdrücken. Ihre Mundwinkel waren eingerissen und brannten. Auf keinen Fall durfte sie sich übergeben, sonst würde sie ersticken. Mit der Zunge versuchte sie, den Stoffballen aus ihrem Mund herauszudrücken. Erfolglos. Ihre Arme waren am Rücken festgebunden, die Hände ganz taub. Sie musste versuchen, sich zu befreien, doch ihr ganzer Körper schmerzte. Trotzdem nahm sie all ihre Kräfte zusammen und zwang sich mit umständlichen Bewegungen, sich aufzurichten. Noch bevor sie eine sitzende Position einnehmen konnte, stieß sie mit dem Kopf gegen Blech und fiel wieder zurück. Der Schmerz erinnerte sie an einen Amboss, auf dem Eisen geschlagen wurde – in ihrem Gehirn. Schwindel überrollte sie mit einer Macht, die ihren Körper von ihrem Verstand zu trennen schien. Panik packte sie. Ein Sarg. Jemand hatte sie in einen Sarg gesteckt und lebendig begraben! Ihre Kehle wurde eng, hinderte sie am Atmen. Worte und Gedankenfetzen rauschten durch ihren Kopf.
Särge sind nicht aus Blech, rief eine innere Stimme. Sie musste sich konzentrieren, sich erinnern, was geschehen war. Es kostete sie unendliche Mühe, ruhig zu atmen. Ihr Herzschlag verlangsamte sich wieder. Sie war in einem Kofferraum eingesperrt. Boris’ Mutter hatte sie in den weißen Wagen geschubst. Nein, das war nicht ganz richtig. Sie war niedergeschlagen worden. Verklebte Haarsträhnen juckten in ihrem Gesicht. Wahrscheinlich war ihre Stirn nicht nur von Schweiß verschmiert, sondern auch von getrocknetem Blut. Ein Aufruhr aus Zorn und Hilflosigkeit tobte in ihr. Der Drang, laut hinauszuschreien, was das alles sollte, wurde übermächtig.
Zoe zerrte an den Handfesseln,
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