Die Totenmaske
langsamen Massagen die Totenstarre aus den Armen seiner Frau strich. Dabei fühlte sie unter ihren Fingern, wie sich die steifen Muskelfasern nach und nach lösten. Da der Todeszeitpunkt nicht länger als achtzehn Stunden zurücklag, war dies möglich. Nach einiger Zeit würde die Rigor mortis zwar erneut einsetzen, doch bis dahin läge die Verstorbene im Sarg. Zoe scherte sich nicht um die seltsamen Blicke der Männer, sondern redete weiter im ruhigen Ton mit der Toten. Erfahrungsgemäß lauschten die Hinterbliebenen bedächtig ihrem Monolog. Vielleicht war dies auch eine Art von Trost.
Der Arzt erhielt einen weiteren Notruf und verabschiedete sich mit ein paar gemurmelten Worten. Inzwischen traf auch Zoes Verstärkung ein, so dass sie gemeinsam ihr Werk vollenden konnten. Jeder Handgriff saß. Nachdem die Starre gelöst war, legten sie die Leiche auf die Bahre. Der Helfer war glücklicherweise kompetent genug, den Bestattungswagen vorher zu öffnen, so dass sie die Tote nicht auf dem Boden abstellen mussten. Der Witwer trottete hinter ihnen her, legte wortlos ein Bündel Sonntagskleidung auf seiner Frau ab und verharrte eine Weile im stummen Gebet. Zoe trat rücksichtsvoll zur Seite, um Herrn Wöhler den ersten Schritt des Abschiednehmens zu ermöglichen. Kurz darauf fuhr der Bestattungswagen mit einem eleganten Schwung vom Hof, während Zoe noch ein paar Formalitäten mit dem Witwer besprach.
Eine halbe Stunde später saß sie in ihrem Wagen mit laufender Klimaanlage und heruntergelassener Scheibe, den Ellbogen in der Fensteröffnung. Sie nahm die kurvenreiche Landstraße etwas zu schnell und tauchte nach einer Weile in den dichtbewaldeten, schattigen Teil der Strecke ein. Ein Kribbeln in ihrem Magen mischte sich zu dem seltsam beschwingten Gefühl. Bald würde sie Leon wiedersehen. Die Verhandlung stand bevor, was sicherlich keinen Grund zur Freude bot. Dennoch erlaubte sie sich diesen kleinen emotionalen Ausflug. Sie ließ die widersprüchlichen Gefühle aus Sorge, Angst und Erwartung hinter sich. Daran war sie gewöhnt. Ständig hatte sie mit dem Tod zu tun und musste trotzdem leben. Gegensätzlicher ging es wohl kaum.
Sie klappte die Sonnenblende hoch. Die Tachonadel schlug in den roten Bereich. Ihr Gewissen meldete sich und ließ sie automatisch den Fuß vom Gaspedal nehmen. Wenn das so weiterging, würde sie noch zu einer vorbildlichen Fahrerin werden. Ob Josh tatsächlich mehr von dieser fremden Frau gesehen hatte, als er zugab? Langsam wurde seine Situation brenzlig. Zoe konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er bewusst jemanden deckte.
Etwas entfernt tauchte ein Auto mit geöffneter Motorhaube auf dem Grünstreifen auf. Zoe stutzte. Langsam fuhr sie näher heran und ließ dabei das Seitenfenster ein Stück herunter. Dampfwolken zischten aus dem Motorraum des weißen BMW. Sie hatte nicht vor, anzuhalten, um irgendwelchen Straßenräubern in die Hände zu fallen. Vor dem Trick mit der Autopanne wurde oft genug gewarnt. An der nächsten Kreuzung wollte Zoe anhalten und die Polizei verständigen. Auf den ersten Blick war niemand zu sehen, so dass Zoe schon das Fenster wieder schließen wollte. Als sie jedoch auf gleicher Höhe mit dem Wagen war, tauchte plötzlich eine Frau hinter der geöffneten Motorhaube auf. Vor Schreck riss Zoe das Lenkrad zur Seite, zog über den Mittelstreifen und schwenkte wieder zurück, bevor sie bremste. Völlig perplex starrte sie in den Rückspiegel. Frau Nauen im pastellfarbenen Chanel-Kostüm auf einer einsamen Landstraße stehen zu sehen, kam so überraschend, als wäre ein Flamingo wie selbstverständlich aus dem heimischen Wald spaziert.
Wie sich herausstellte, war der Anblick leider kein Trugbild. Zoe entglitt ein Stoßseufzer. Da hatte sie sich kürzlich noch alle Mühe gegeben, dieser Frau inmitten einer Gruppe Menschen auszuweichen, nur damit sie ihr hier völlig unerwartet auf einem Silbertablett präsentiert wurde! Offensichtlich hatte sie eine Panne. Zoe konnte schlecht einfach weiterfahren.
»Mist!«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. Sie legte den Rückwärtsgang ein und fuhr rechts ran. Als sie ausstieg, blickte sie hinter sich, in der Hoffnung, es würde doch noch ein anderer Autorfahrer auftauchen, um die Pannenhilfe zu übernehmen. Nichts. Wie gewohnt lag die Straße ruhig vor ihr.
Im Gegensatz zu Zoe, der die Sonne durch ihr T-Shirt auf dem Rücken brannte, wurde Frau Nauen geblendet und erkannte sie nicht sofort. Sie schirmte mit
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