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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
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ihre ganze Haltung angespannt war, schien ihr sonst strenges Erscheinungsbild in Unordnung geraten zu sein. Eine dunkle Haarsträhne hatte sich aus ihrem Dutt gelöst. In ihren Augen nistete eine Melancholie, die vielleicht von Einsamkeit herrührte. Von Zoe wusste er, dass sie sich auf verschrobene Weise distanziert verhielt. Doch da glomm noch etwas anderes in den grauen Augen auf, was nicht im Entferntesten mit Emotionen zu tun hatte.
    »Ich weiß, wer Sie sind«, beschied sie ihm barsch. »Mir ist aber nicht klar, was meine Tochter mit Ihren Ermittlungen zu tun hat. Überhaupt sehe ich keinen Sinn darin, so viel Aufhebens darum zu machen. Gott hat sich längst seiner Sünder angenommen.«
    Leon musterte das Gesicht der Frau. Betrunken schien sie nicht zu sein, aber ein bisschen seltsam kam sie ihm schon vor. Irgendwie vertraut. Er hielt es für sinnvoll, nicht weiter auf ihre religiösen Ansichten einzugehen.
    »Um die irdischen Belange müssen wir uns schon selbst kümmern. Bis zum Fegefeuer vergeht für gewöhnlich eine geraume Zeit.«
    Leon versuchte es mit einem Lächeln – in der Hoffnung, sie würde sich ein wenig entspannen. Doch Isobel verschränkte die Arme vor ihrer Brust.
    »Nicht wenn die Diener des Herrn die Ausführung Seiner Gebote in die Hand nehmen. Aber auf die Menschen ist wenig Verlass. Sie richten und urteilen nach ihren eigenen Regeln, ohne Sinn und Verstand.«
    Verblüfft über ihre drastische Meinungsbekundung beschloss Leon, sich vorerst verständnisvoll zu geben. Erfahrungsgemäß erreichte er mit ruhiger Höflichkeit am meisten.
    »Wie Sie meinen, Frau Lenz. Ist Zoe denn zu Hause?«
    Ihre Miene versteinerte sich. »Meine Tochter ist letzte Nacht nicht heimgekommen, wie so häufig. Sie glaubt, ich wüsste nichts davon, wenn sie in unanständiger Aufmachung loszieht, um der Sünde zu frönen.«
    Offenbar sprach sie von Zoes Ausflügen ins Pydna. Abgesehen von einer liebenswürdigen Skurrilität konnte Leon nichts Anstößiges an Zoes Loretta-Kostüm finden. Aber wahrscheinlich verhielt sich das in den Augen eines Moralapostels anders. Und diese Frau glaubte, für den Begriff »Moral« wortwörtlich Pate gestanden zu haben.
    »Finden Sie nicht, dass Sie etwas hart sind? Immerhin ist sie Ihr Kind, das sich nicht anders verhält als jede andere junge Frau.«
    »Wie jede gefallene Frau«, korrigierte Isobel. »Doch die Schuld an ihrem Untergang wurde bereits gesühnt und der Schänder dem Jüngsten Gericht übergeben.«
    Mit diesen Worten betätigte sie die Fernbedienung, die das Garagentor herunterfahren ließ, und machte Anstalten, den Weg zum Haus hinaufzugehen.
    Leon starrte ihr kopfschüttelnd hinterher. Eigentlich hatte er nicht vor, eine Diskussion über Evas Fall im Garten Eden zu entfachen, sondern wollte mit Zoe die Fotos sichten, um eine zweite Meinung einzuholen. Die Zeit drängte, wenn er den Richter noch vor Prozessbeginn sprechen wollte. Ohnehin erschien es ihm zwecklos, diese Frau über die Zuständigkeit von Gerichtsbarkeiten aufzuklären. Sie schien völlig eingenommen von ihren dogmatischen Aussagen. Alles andere, und damit jegliche weltlichen Belange, waren in ihren Augen unvollkommen – minderwertig. Oder verbarg sich mehr hinter der fanatischen Fassade?
    Nicht zum ersten Mal fragte Leon sich, welche Rolle Zoes Mutter in diesem Fall spielte. Inwieweit eine psychische Störung vorlag, konnte er nicht beurteilen. Es liefen genug Verrückte frei herum, denen Schlimmeres anzulasten wäre als der unverblümte Hass auf einen Jungen, der die eigene Tochter überfallen hatte, ohne dafür bestraft worden zu sein. Frau Lenz’ Genugtuung angesichts des Schicksals, welches den Täter letztlich ereilt hatte, war unübersehbar.
    Nach allem, was ihm bisher zu Ohren gekommen war, lebte Frau Lenz äußerst zurückgezogen, war aber dennoch auf subtile Weise in der Gemeinschaft präsent. Zumindest was den Teil der Bevölkerung ausmachte, der ihre Predigerveranstaltungen besuchte. Sie verließ äußerst selten das Haus, brachte sich bis auf ein paar Kundengespräche nicht in die Arbeit ihrer Tochter ein. Dennoch schien sie hin und wieder Touren mit dem Fahrrad zu unternehmen. Das verschmutzte Tuch vorhin in ihrer Hand, mit dem sie offenbar das Fahrrad geputzt hatte. Wie getrocknete Blutflecke sahen sie aus, die Spuren von rötlicher Erde, die es seinem Wissen nach nur am Steinbruch gab. Demnach war sie dort gewesen. Ein gutes Stück Weg mit dem Rad, das durchaus Kondition erforderte.

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