Die Totenmaske
ansetzte, und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass Zoe noch leben möge.
Seine Gedanken kreisten um die rötliche Erde an Frau Nauens Schuhen. Auch an den Fahrradreifen von Zoes Mutter waren sie ihm aufgefallen. Was hatte das zu bedeuten? Die Frau auf dem Foto vom Tatort war eindeutig dunkelhaarig. So viel war zumindest zu erkennen. Frau Nauen war blond, doch welche Rolle spielte sie? Sie wird wohl kaum ihren eigenen Sohn umgebracht haben. Da käme noch eher Isobel Lenz in Frage. Aber Frau Nauen hasste Zoe und hätte ein Motiv, ihr etwas anzutun.
Zusammenfassend betrachtet, schienen die Ereignisse in diesem ländlichen Idyll die meisten seiner Großstadtfälle noch zu übertreffen. Wo war er hier überhaupt hineingeraten? Ins Land der durchgeknallten Mütter? Tötest du mein Kind, töte ich deins? Wenn er mit seinen Annahmen richtig lag, rangierte das verbrecherische Ausmaß von perfider Selbstjustiz beinahe jenseits seiner Vorstellungskraft. Er schüttelte den Kopf und lenkte den Wagen auf einen holprigen Pfad, der so schmal war, dass die Reifen zu beiden Seiten über Grünstreifen fuhren.
Erst wenn er Genaueres wusste, konnte er gegen Frau Nauen vorgehen. Leider reichten verdreckte Designer-Pumps dazu nicht aus. Schließlich galt Zoe bislang lediglich als unauffindbar. Sie könnte sonst wo sein und war niemandem darüber Rechenschaft schuldig. Leons Gefühl hingegen ging in eine völlig andere Richtung. Mittlerweile lagen seine Mutmaßungen offen dar und warteten nur noch auf tatkräftige Beweise. Was Frau Nauen betraf, so würde Zoes Aussage bald Klarheit schaffen. Womöglich steckte sie sogar hinter den Anschlägen auf Zoe, denn so ganz überzeugte Leon die Geschichte der Lausbubenstreiche nicht. Damit würde er die Frau mindestens wegen Anstiftung zu Körperverletzung drankriegen.
Vor ihm tauchte eine grüne Wand aus üppiger Vegetation auf, die nur über einen Trampelpfad zu durchqueren war. Leon bremste scharf und sprang aus dem Wagen, ohne die Tür hinter sich zu verschließen. Als er am Steilhang ankam, wurde die Trage gerade vom Rettungstrupp mit einem Seilzug über den Rand gehievt. Leons Herz setzte einen Moment aus, als er die dunklen Locken unter der Wärmefolie erblickte. Der Notarzt eilte herbei und fing damit an, Zoe zu untersuchen. Leon musste sich zusammenreißen, um ihn nicht mit Fragen zu bestürmen, und zeigte stattdessen seine Dienstmarke. Dabei konnte er seinen Blick nicht von Zoe lösen. Ihr blasses Gesicht war blutverschmiert, die Lippen aufgesprungen. Eine Hand lugte unter der Decke hervor, die Fingerknöchel voller Schürfwunden. Leon spürte archaische Wut auf denjenigen in sich aufsteigen, der sie so zugerichtet hatte.
»Ist … ist sie schwer verletzt?«, presste er hervor.
Der Arzt blickte verständnisvoll zu ihm auf. Anscheinend stand es Leon auf die Stirn geschrieben, dass seine Besorgnis nicht nur dienstlicher Natur war.
»Aufgrund der Wunde am Schienbein hat sie viel Blut verloren. Vermutlich ist es gebrochen. Außerdem ist sie ziemlich ausgetrocknet«, erklärte der Arzt.
Fassungslos starrte Leon auf Zoes Bein.
Der Arzt kontrollierte den tragbaren Infusionsbeutel. »Es gibt eine Platzwunde am Kopf, was eine Gehirnerschütterung vermuten lässt. Ansonsten sind die Vitalfunktionen stabil. Sie ist schwach, aber bei Bewusstsein. Wir bringen sie erst einmal ins Krankenhaus, dann sehen wir weiter.«
Der Schreck ließ nach, nachdem der Arzt ihm versichert hatte, dass keine ernsthaften Verletzungen vorlagen. Natürlich stellte ein Sturz wie dieser keine Lappalie dar, doch wenigstens waren keine lebensnotwendigen Organe verletzt worden.
Zoes Lider flatterten. Leon schob sich am Arzt vorbei und beugte sich zu ihr hinunter.
»Kannst du sprechen?« Er legte sanft eine Hand auf ihre Schulter.
»Genügt auch krächzen?«, flüsterte sie und versuchte ein Lächeln. Blut tropfte aus einem neuen Riss an ihrer Lippe. Sie verzog das Gesicht mit geschlossenen Augen.
»Das genügt«, mischte sich der Arzt ein. »Wir müssen sie versorgen.«
»Zoe, kannst du dich erinnern, was passiert ist?«, fragte Leon hastig.
Ihre Brust hob sich unter einem tiefen Atemzug. »Boris’ Mutter wollte mich umbringen.«
»Frau Nauen hat dir das angetan?« Leon musste sichergehen, bevor er etwas unternehmen konnte. Sie musste den Namen unter Zeugen bestätigen.
»Mmh«, kam es mit einem leichten Nicken von Zoe.
Dann kippte ihr Kopf zur Seite. Sie war wieder eingeschlafen. Die Geduld des Arztes war
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