Die Totenmaske
erlosch augenblicklich wieder. Nach einem sinnlosen Versuch, ihr wasserstoffblondes Haar zu ordnen, tastete sie auf dem Tisch herum wie eine Blinde und griff nach einer halb gerauchten Zigarette. Ihre braunen Augen lagen tief in den Höhlen und hatten jeglichen Glanz verloren. Die bleichen Wangen waren von Pickeln und nässenden Wunden überzogen. Leon war die großflächige Rippenprellung ebenso wenig entgangen wie die Vielzahl entzündeter Abschürfungen auf dem leichtbekleideten Körper, den sie nun zu verbergen versuchte.
Bis auf ein paar Billigmöbel war der Raum nur spärlich eingerichtet. Die zugezogenen Vorhänge sperrten das Tageslicht aus und ebneten der Trostlosigkeit den Weg. Überall lagen leere Flaschen und Fast-Food-Verpackungen herum. Überquellende Aschenbecher verteilten sich wie Zierat auf den wenigen Abstellmöglichkeiten. Die Luft roch abgestanden. Unwillkürlich fühlte Leon sich an den letzten Tatort in Mainz zurückversetzt. Vor dem Mord musste es dort ähnlich ausgesehen haben.
Auf einem Seitentisch stand eine Fotografie im Goldrahmen, auf der ein junger Mann mit braungebranntem Oberkörper sein strahlendes Zahnpastalächeln in den Raum warf. Dem Fahndungsbild nach handelte es sich um Sören Hellmann.
»Ey, was soll das, Mann?!«, kam es von der Tür.
Leon fuhr herum, doch ehe er etwas sagen konnte, ergriff Lilian das Wort. »Der ist okay.« Mit verhangenem Blick wandte sie sich an Leon. »Ein Freund. Er leistet mir Gesellschaft, wenn ich allein bin.«
Ihre Stimme klang belegt. Leon schluckte seine Wut hinunter und setzte sich auf den Rand eines Sessels. Der angebliche Freund verharrte im Türrahmen wie ein Aufseher.
»Hast du mich also doch noch gefunden«, stellte sie fest.
»Ich habe nie aufgehört, zu suchen.«
Lilian seufzte und strich sich eine Haarsträhne hinter die Ohren. Hinter ihr an der Wand hingen Kohlestiftzeichnungen, Landschaften und Porträts. Deutlich war Lilians Stil zu erkennen. Eine Zeichnung zeigte ihr Elternhaus. Lilian wandte sich ab, als Leon das Bild betrachtete, und drehte sich mit fahrigen Bewegungen eine Zigarette.
»Statt mich anzustarren, kannst du auch einfach sagen, was du von mir willst!«, erklärte sie ungeduldig.
»Ich will, dass du mit mir nach Hause kommst. Du bist krank, und das hier ist keine geeignete Umgebung für dich.«
Ein verächtliches Schnaufen ertönte von der Tür. Lilian blickte auf. Ihre Miene spiegelte eine ungewohnte Härte wider.
»Natürlich ist es das! Hier werde ich akzeptiert. Daheim waren ständig alle enttäuscht von mir. Das muss ich nicht haben. Ihr könnt doch froh sein, wenn ich weg bin! Ich wette, unsere Eltern haben mich längst abgeschrieben.«
»Sie machen sich große Sorgen«, erwiderte Leon, obwohl er sich dessen nicht mehr sicher war. Meistens redete sein Vater über Lilian als das Kind, das ihm schon jede Menge Nerven gekostet hatte. Seine Mutter zog es vor, im Rahmen ihrer Teekränzchen mit Freundinnen über den Verlust der geliebten Tochter zu klagen. Leon empfand ihre sentimentalen Ausbrüche als inszeniert, zumal diese Runden häufig in eine Art Wettstreit über das Maß an Leid, welches die Damen zu ertragen hatten, ausarteten. Lilian hatte schon früh erkannt, dass es ihren Eltern in erster Linie um sich selbst ging. Leon hatte eine Weile gebraucht, bis er feststellte, dass seine Eltern sich mit Leistungen ihres Sohnes brüsteten, für die sie keinen Finger gerührt hatten. Er verübelte es ihnen nicht, aber er trug auch den aus Lilians Sicht leichteren Part als Erstgeborener.
»Hör zu, ich bin nicht krank. Warte nur ab, bis ich mich nachher gestylt habe!«
Plötzlich klang sie wieder wie der trotzige Teenager, der ein Verbot seiner Mutter durchsetzen wollte. War das wirklich schon so lange her?
»Du kannst doch nicht in dem Zustand … arbeiten!« Leon blieben die Worte im Halse stecken, so elend fühlte er sich mit einem Mal. Natürlich war ihm klar, was mit Lilian los war. Die Einstichstellen in der Armbeuge, der Vorzeige-Lude an der Tür, ihr abgemagerter Körper. Alles deutete darauf hin, dass sie eins der Mädchen war, die von Hellmann ausgebeutet wurden. Experimentierfreudig war Lilian zwar schon lange, aber harte Drogen hätte er ihr nicht zugetraut.
»Anschaffen, Leon. Ich gehe anschaffen, auch wenn es meinen hochanständigen Bruder brüskiert! Und es ist in Ordnung. Ich mache es freiwillig für …«
Ein warnendes Rascheln von dem Tätowierten unterbrach ihren plötzlichen
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