Die Totenmaske
zäh, sondern auch stur. Doch Leon hatte nicht vor, sich einfach so hinausbugsieren zu lassen. Er musste einen Weg finden, sie zu überzeugen, dieses selbstzerstörerische Leben aufzugeben. Notfalls wollte er sie dazu zwingen. Auf keinen Fall würde er sie mit diesem zwielichtigen Typen allein zurücklassen. Je ruhiger er sich verhielt, desto mehr erweckte er Leons Misstrauen.
Wieder ertönte ein Geräusch von nebenan, und dieses Mal zuckte auch der Blick des Tätowierten.
»Was war das?«, wollte Leon wissen.
Lilian trat neben ihn, um ihm den Weg zum anderen Teil der Wohnung zu versperren, und legte die Hand auf die Klinke der Zimmertür. »Gar nichts … meine Katze hat ihre fünf Minuten. Ich muss sie jetzt füttern.«
Leon machte einen Schritt auf die Tür zu und behielt dabei den Tätowierten im Auge, der sich hinter ihm postierte. Eine Katze? Lilian reagierte seit ihrer Kindheit schwer allergisch auf Tierhaare. Außerdem wimmerten Katzen nicht wie Menschen.
Leon wuchtete seinen Ellbogen ruckartig nach hinten und traf auf die Rippen des Tätowierten. Mit einer halben Drehung setzte er noch einen Faustschlag auf dessen Nase nach. Es knackte. Der Kerl taumelte zu Boden.
»Leon! Nicht!«, schrie Lilian.
Doch er schoss schon an ihr vorbei und rannte den Flur entlang. Er rammte die Tür, hinter der er die Geräusche vermutete, mit solch einer Wucht auf, dass sie aus den Angeln zu fliegen drohte. Sofort schlug ihm der Gestank nach Kot entgegen, so dass er sich einen Augenblick wünschte, in dem Raum tatsächlich nur ein verdrecktes Katzenklo zu finden. Er stürmte in den abgedunkelten Raum und wäre beinahe auf etwas Feuchtem am Boden ausgerutscht. Ein Lichtstreifen fiel vom Flur herein, genügte aber nicht, um etwas zu erkennen. Scharfer Ammoniakgeruch brachte ihn zum Husten. Er hob seine Armbeuge vor die Nase und schlug mit der freien Hand auf den Lichtschalter. Nichts. Das Wimmern aus einer Ecke ließ ihn erschaudern. Auf der gegenüberliegenden Zimmerseite drang Tageslicht durch die winzigen Löcher des Fensterbehangs. Mit wenigen Schritten war Leon dort und riss die Tücher hinunter. Staub wallte auf. Ein verzweifeltes Stöhnen ging in panisch hechelndes Atmen über. Leon fuhr herum und erstarrte.
Auf einer verdreckten Matratze hockte eine junge Frau. Ihre Arme schienen ihr nicht recht gehorchen zu wollen, dennoch mühte sie sich ab, um ihre Blöße zu verbergen und gleichzeitig ihre vom plötzlichen Tageslicht geblendeten Augen zu schützen. Die Drahtschnur ihrer Fesseln verrutschte, es kamen tiefe Einschnitte an ihren Handgelenken zum Vorschein. Ihr nackter Körper krampfte unter dem Versuch, mit der Wand zu verschmelzen. Dabei traten ihre Füße ins Leere wie bei einem panischen Tier in der Falle. Heisere Laute drangen aus ihrer Kehle. Jemand hatte ihr den Kopf geschoren, was dem Elend ihres geschundenen Körpers noch eins draufsetzte. Schmutz und Prellungen in verschiedensten Heilstadien waren kaum voneinander zu unterscheiden. Die junge Frau hörte abrupt auf, zu strampeln, und wandte Leon den Rücken zu.
In der plötzlichen Stille hörte sich Leons Herzschlag unnatürlich laut an. Mit an den Körper gezogenen Beinen verharrte die Frau in Embryonalhaltung, schien in Schockstarre gefallen zu sein. Blutschlieren zogen sich von der Innenseite ihrer Oberschenkel bis zu ihren Waden.
Leon eilte zu ihr und hockte sich vor die Matratze. Schnell zog er seine Jacke aus und legte sie sanft über die bebenden Schultern der Frau. An ihrem Nacken prangte eine Abschürfung, die sich um ihren Hals zog und Folge einer Strangulierung zu sein schien.
»Ganz ruhig! Ich bin Polizist, Ihnen geschieht nichts.« Behutsam löste er die Handfesseln. »Wie heißen Sie?«
Er wusste nicht, ob er sie erreichen konnte, ob sie ihn überhaupt verstand. Er wollte ihr nur verdeutlichen, dass keine Gefahr von ihm ausging. Jemand, der ihr etwas antun wollte, interessierte sich nicht für Namen. Doch es kam keine Antwort. Offensichtlich stand sie unter Schock. Sein Blick fiel auf einen Hundenapf mit Wasser, dessen Oberfläche von Flusen überzogen war. Übelkeit kroch in ihm hoch.
»Lilian, ruf einen Krankenwagen!«, brüllte er über die Schulter hinweg. Unter seiner Hand zuckten die Schultern des Opfers unter einem Anfall von Schüttelfrost. Fiebrige Hitze stieg ihm entgegen. Seine Jacke reichte nicht aus, um sie zu wärmen oder wenigstens zu bedecken. Die Fenstertücher. Leon sprang auf, wobei sein Blick auf einen
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