Die Totenmaske
ein. Hoffentlich war sie nicht durch die Außenwand der Luftröhre gestoßen! Sie zog den Schaft ein Stück zurück und drang wieder vor. Auf dem Monitor erschienen die ersten feinen Verästelungen der oberen Bronchien, einst Versorgungssystem eines ganzen Organismus, nun farblos verkümmert wie die Krone eines toten Baumes. Mit verhaltenem Druck schob Zoe den Schaft weiter vor zum oberen Lungenlappen durch die bizarre Welt im Innern eines Körpers. Oder von dem, was davon übrig war. Morast kam Zoe in den Sinn. Das Lungengewebe hatte angefangen, sich aufzulösen. Das Endoskop glitt lautlos in den Brei aus zersetztem Organ. Das Bild auf dem Monitor verdunkelte sich.
»So ein Mist!«, fluchte Zoe laut.
Es war zu spät. Jetzt war es nicht mehr nötig, behutsam vorzugehen. Vielleicht konnte sie noch eine einigermaßen brauchbare Probe entnehmen. Zügig zog sie das Objektiv aus dem Arbeitskanal, warf es hinter sich in das Spülbecken und fing an, eine mikromechanische Greifzange einzuführen. Kurz darauf landete das zwar wenig ansehnliche, aber brauchbare Stück Biopsiematerial in einem mit Formalin gefüllten Plastikbehälter. Zoe seufzte, während sie den Deckel festdrehte. Sie hasste die Vorstellung, ihre Arbeit könnte zu keinem sinnvollen Ergebnis führen. Wenigstens wurde in der molekularbiologischen Abteilung des Kreiskrankenhauses ausgezeichnete Arbeit geleistet. Die Laboranten würden schon das bestmögliche Ergebnis aus der Probe erzielen.
Sie entfernte das Endoskop aus dem Rachen des Toten und legte es in ein Desinfektionsbad. Ein Schwall von süßlichem Ammoniakgeruch drang aus dem offenen Mund des Leichnams durch Zoes Mundschutz. Bevor sie sich mit dem abschließenden Vernähen und Ankleiden der Leiche beschäftigen würde, verpackte sie das Material in eine Versandtüte. Über die Ergebnisse würde umgehend das zuständige Dezernat in Mainz informiert werden. Ob Kommissar Strater sie darüber in Kenntnis setzte? Darüber hätte sie sich zwar gefreut, doch war es nicht zu erwarten. Ihr Job war erledigt, zumindest was die Ermittlungen an den Morden betraf. Sie musste sich nun um die endgültige Aufbereitung der Leichen kümmern. Glücklicherweise hatte sie entsprechende Vorarbeit geleistet, so dass der Abschiedsfeier nichts im Wege stand.
*
Zoe zupfte unbehaglich am Schoß ihres Blazers herum. Wie immer zu geschäftlichen Anlässen trug sie ein dunkelblaues Kostüm mit schmalem Rock und klassischen Pumps. Mit weißer Bluse und zusammengebundenem Haar dürfte ihre Aufmachung offiziell genug sein. Ihre Mutter stand mit strenger Hochsteckfrisur auf der anderen Seite des Bestattungssaales neben dem Sarg und lauschte der Rede eines Angehörigen.
Zahlreiche Blumengestecke umringten den Aufbahrungsbereich, erstreckten sich wie ein bunter Teppich über den Boden. Ihr Duft wogte schwer über den Köpfen der Trauergemeinde und schien den Sauerstoff in die äußersten Winkel des Raumes zu verdrängen. Bis zum letzten Stuhl war jeder Platz belegt. Sogar auf den zusätzlich aufgestellten Bänken saßen Angehörige und Freunde der Familie Nauen eng aneinandergedrückt.
Zoe öffnete diskret den oberen Knopf ihrer Bluse, bevor sie den Schalter in dem Tableau neben sich betätigte, um die Klimaanlage höher zu stellen. In Gedanken ging sie bereits die nächsten Aufgaben durch, die sie heute noch zu erledigen hatte. Drei Beerdigungen an einem Tag erforderten ein Höchstmaß an Organisation. Hinter ihr in der Halle warteten genügend Helfer auf ihr Zeichen. Nach der letzten Rede mussten diese schon damit anfangen, die Blumenbuketts möglichst diskret durch den Hinterausgang zum Transportwagen zu bringen, das Ganze natürlich, ohne den feierlichen Ablauf zu stören. Erst danach würden die Sargträger mit gewohnt würdevollen Mienen den Sarg aufladen, um ihn zur letzten Ruhestätte des Toten zu bringen.
Zoe und ihrem Bestattungsteam blieb gerade einmal eine halbe Stunde, bis die nächste Trauergemeinde eintreffen würde, für die mindestens genauso viel Aufwand bevorstand. Die Familien der drei Verstorbenen hatten sich gegen eine gemeinsame Bestattungsfeier entschieden. Aus Gründen der Pietät wollte man jedem Jungen einen individuellen feierlichen Rahmen zum Abschied bieten. Dabei lag die Vermutung nahe, dass sich die drei Familien nicht so gut verstanden, wie es die drei toten Jungen zu Lebzeiten getan hatten. Es war allgemein bekannt, dass einer den anderen dafür verantwortlich gemacht hatte, wenn die drei wieder
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