Die Totenmaske
eben ausradieren.
»Zoe, sind alle draußen? Dann schließ die Tür, und komm hierher! Wir haben noch allerhand zu tun.« Die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Gedanken.
»Ja, natürlich.« Zoe schob die Flügeltür zu und ließ sich bereitwillig wieder von der Betriebsamkeit um sie herum einnehmen.
Am nächsten Tag arbeitete Zoe stundenlang an Boris’ Totenmaske, um endlich für sich den Fall Boris Nauen abschließen zu können. Bis auf den Zwischenfall mit seiner Mutter waren die Beisetzungen ein voller Geschäftserfolg gewesen. Wobei die Trauerfeier für Lars Kamps vor ein paar Stunden beschaulicher in einem kleineren Rahmen stattgefunden hatte. Vermutlich würde es bei der dritten und letzten Beerdigung am nächsten Tag ähnlich zugehen.
Nun hielt sie das fast fertige Abbild in der Hand, was den Verstorbenen posthum zum Goldjungen machte. Ein prunkvoller Edelholzrahmen lag bereit, in dem die Maske schlussendlich für die Ewigkeit dekorativ zur Schau gestellt werden sollte. Zoe hätte einen schlichteren Rahmen gewählt, um die Wirkung der Maske besser zur Geltung zu bringen, doch der Wunsch des Auftraggebers lautete anders. Der Umgang mit dem edlen Material war zunächst ungewohnt, doch aufgrund der enormen Dehnbarkeit des Goldes ging Zoe die Arbeit leicht von der Hand. Schnell hatte sich gezeigt, mit welch außergewöhnlicher Präzision das Gold jede einzelne Pore und Hauterhebung exakt nachbildete. Mit einer speziellen Feile bearbeitete Zoe die letzten rauhen Ränder und korrigierte verbliebene Unebenheiten.
Mittlerweile ließ ihre anfängliche Begeisterung nach, was nicht selten vorkam, wenn sie mit einem Werk zum Abschluss kam. Es ähnelte einem Abnabelungsprozess, den sie immer wieder aufs Neue durchlebte. Die Totenmasken waren ihre Passion, der sie sich mit Herzblut und Begeisterung widmete. Doch irgendwann verließ jedes Vögelchen sein Nest, und jeder Prozess neigte sich dem Ende zu. Zoe wandte sich meistens schnell einer neuen Arbeit zu, um das leise Gefühl des Verlustes zu verdrängen. Die goldene Totenmaske war längst fertig. Zoes Gefeile an unsichtbaren Ecken und Kanten stellte den schwachen Versuch dar, die aufsteigende Unrast zu kanalisieren.
Ständig tauchte Leons Bild vor ihrem inneren Auge auf. Sie hatte nichts mehr von ihm gehört, was ihre Gefühle in einen Tumult aus Verständnis und Verärgerung warf. Sie hätte gern gewusst, wie es um die Ermittlungen in dem Mordfall stand. Vielleicht war Leon in den umliegenden Dörfern unterwegs, um die Bewohner zu befragen. Oder war der Fall bereits abgeschlossen? Dabei hatten sie sich doch so gut verstanden. In seiner Gegenwart fühlte sie sich ausgeglichen, beinahe glücklich. Sie interessierten sich für dieselben Themen, unterhielten sich lebhaft, als würde der eine die Gedanken des anderen im Voraus kennen. Er roch nach Wald und frischer Luft. Aber er war eben in seiner Eigenschaft als Kriminalbeamter hier unterwegs. Weiter nichts. In ihrem Magen schwoll ein nervöses Flattern an. Das passierte ihr häufig in den letzten Tagen.
»Okay, es reicht!«
Zoe warf die Feile auf die Anrichte, legte ein weiches Tuch über die Totenmaske und verließ ihr Atelier. Sie brauchte dringend Zerstreuung, um sich abzulenken. Wenn ihr das schon nicht bei der Arbeit gelang, half nur ein Abend in Lorettas Maske. Entnervt verdrehte sie die Augen und löste das Gummiband von ihrem Zopf. In ihrem Zimmer angekommen, griff sie mit resoluten Bewegungen nach den Kleidungsstücken und zog sich um. Die verschiedenen Schichten Make-up aufzulegen, bildete die leichteste Übung. Das hätte sie selbst im Schlaf vollbracht. Mit jedem Pinselstrich kam Loretta stärker zum Vorschein, während Zoe in den Hintergrund trat.
Wie konnte sie nur annehmen, ein Polizist aus Mainz hätte mehr als ein berufliches Interesse an ihr? Langsam kam sie sich wie eine alberne Gans vor. Das musste aufhören, bevor es peinlich wurde. Unterdessen warf ihr Loretta-Spiegelbild ihr unter den pinkfarbenen Fransen der Perücke einen abschätzenden Blick zu.
»Nun, dann wollen wir doch mal sehen, ob sich in unserer Vergnügungswelt keine Lösung für Gefühlschaos finden lässt!«
Sie zupfte das eng anliegende Oberteil in Form und schlüpfte in die hochhackigen Lederstiefel. Während sie sich umdrehte, zwinkerte sie ihrem Spiegelbild zu, als gehörte ihr die Welt und sie brauchte nur danach zu greifen.
Leon hielt sich nicht für einen Spielverderber. Er konnte durchaus feiern gehen, auch
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