Die Totenmaske
Nichts gerichtet. Die milchigen Linsen nur noch ein Schatten dessen, was sie einst ausdrückten. Dagegen versuchten die Glasaugen der ausgestopften Wildtiere an den Wänden wenigstens, Lebendigkeit zu simulieren. Tierpräparate ließen sich einfach anfertigen, einen Menschen auszuweiden erforderte, dass man eine unüberwindbare Schwelle überschritt.
Drei Leichen hatten sie im Steinbruch gefunden. Diese sollte niemand finden. Ein Geheimnis würde bewahrt bleiben.
Wenn nur der Gestank nicht wäre! Immer wenn man glaubte, sich daran gewöhnt zu haben, wurde er schlimmer. Drang durch jede Ritze im Haus wie ein ungebetener Besucher, der unmissverständlich jegliche Aufmerksamkeit einforderte. Man roch ihn nicht nur, sondern nahm ihn mit jeder Pore über die Haut auf. Es wurde immer schwieriger, den Toten abzuwaschen. Aber das war der Preis. Der Preis für die Illusion einer Vergangenheit, die längst vorbei war.
*
Frösche zu sezieren war beknackt. Noch beknackter war die damit verbundene Aufgabe. Jedes Kind wusste, wie die Organe angeordnet waren und welchen Zweck sie erfüllten. Oder auch nicht.
Im Gegensatz zum Rest der Klasse hatte Josh in kürzester Zeit den fixierten Körper des toten Frosches mit drei sauberen Schnitten geöffnet, sämtliche Organe entnommen, sie mit ihren lateinischen Fachbegriffen benannt und wieder an ihren Platz zurückgelegt wie bei einem Baukastensystem. Nach dem Vernähen sah die empfindliche Bauchseite beinahe aus wie vorher, nur würde das dem Frosch wenig nützen. Die anderen Schüler waren noch bei der Organentnahme und würden den Rest der Doppelstunde damit beschäftigt sein. Josh schnitt den letzten Fadenrest ab und fing damit an, seinen Arbeitsplatz aufzuräumen. Immer noch drangen die überraschten Ausrufe seiner Klassenkameraden zu ihm herüber, eine Mischung aus gespieltem Entsetzen und kindlicher Begeisterung zog sich durch die Gruppe.
Kindsköpfe! Hatten sich paarweise zusammengetan, um gemeinsam aus den sezierten Exponaten zu lernen. Blöderweise bestand der Kurs aus dreizehn Schülern, so dass Joshs Partner wie sooft der Lehrer war. Dieser hatte sich jedoch schnell an sein Pult zurückgezogen, nachdem er bei Joshs Fragen ins Straucheln geraten war. Ihm sollte es egal sein. Er arbeitete gern allein, weil seine Klassenkameraden ihn ohnehin nervten. Josh schnaufte leise und kramte unter dem Tisch nach seinem Frühstücksbrot. Das Rascheln der Tüte ging im allgemeinen Gemurmel unter. Mit den Fingern zupfte er ein mundgerechtes Stück Brötchen ab und schob es sich in den Mund, als sein Biolehrer gerade nicht hersah.
Vielleicht hätte er sich vorher die Hände waschen sollen. Zoe hätte ihm einen Riesenanschiss verpasst, gefolgt von einem ellenlangen Vortrag über hygienische Bedingungen bei Laborarbeiten. Aber Zoe beschäftigte sich auch mit wesentlich interessanteren Dingen, sie arbeitete an Menschenkörpern. Josh wäre jetzt lieber in ihrem Behandlungsraum gewesen, statt in der Schule Froschkörper zu malträtieren. Manchmal erlaubte Zoe ihm sogar, zu assistieren, doch meistens durfte er nur zusehen. In der letzten Zeit hatte er sich nicht mehr so häufig im Bestattungsraum aufgehalten. Zoe hatte er auch nicht gesehen und wenn, dann war dieser Sonnyboy von Bulle an ihrer Seite.
Joshs Magen zog sich zusammen, als er an ihr Treffen vor dem Café dachte. Noch immer nagte das Gefühl von Verrat in seinen Eingeweiden wie ein gefräßiger Bandwurm. Solange er denken konnte, hatten sie beide über die Spießer im Omastübchen gelästert. Was ihm jedoch wirklich zu schaffen machte, war Zoes Lächeln, wenn dieser Polizist Strater mit ihr sprach. Lächeln. Das tat sie sonst nie. Der Brotklumpen blieb ihm im Hals stecken. Seine kleinen Finger kribbelten, als unterdrückter Groll in ihm aufstieg. Überhaupt war er wütend auf Zoe. Da war endlich dieser Bastard Boris von der Bildfläche verschwunden, und schon tauchte ein anderer Typ auf! Ein Polizist, der mit ihr zusammenarbeitete. Klar, wer’s glaubt, wird selig!
Ein Rumsen riss Josh aus seinen Gedanken. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er fester als beabsichtigt gegen die Unterseite der Tischplatte geboxt hatte.
»Alles klar bei dir, Josh?« Der Lehrer blickte hinter seinem Pult auf und warf ihm einen strengen Blick zu.
»Ja, ja«, erwiderte er und stopfte den leeren Brotbeutel in seine Tasche zurück. Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und schaukelte damit gegen die
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