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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
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Wand. Praktisch so ein Sitzplatz in der letzten Reihe. Der tote Frosch lag in ergebener Haltung vor ihm und wartete darauf, bewertet zu werden.
    Dabei war Zoe so cool. Genau in diesem Raum war sie es gewesen, die Jahre zuvor mit einem spektakulären Streich für Aufsehen gesorgt hatte. Dabei wusste bis heute niemand, dass sie dahintersteckte. Kurz nach Boris’ Schulverweis meinten ein paar seiner Anhänger, Zoe triezen zu müssen, wo sie nur konnten. Einer von ihnen war in Zoes Biokurs und fand eines Tages unter dem Tuch auf seinem Tisch keinen toten Frosch, sondern einen halb verwesten menschlichen Daumen. Bis heute kursierten die Geschichten über den Jungen, der beim Anblick des nach oben gerissenen rotlackierten Fingernagels von seinem Stuhl hochgeschossen war wie ein gezündeter Feuerwerkskörper und dabei zum Verwechseln ähnliche Geräusche von sich gegeben hatte. Ehe der alarmierte Lehrer den Tisch erreicht hatte, war der Daumen im allgemeinen Durcheinander verschwunden. Josh konnte sich bildlich vorstellen, wie Zoe mit der für sie typischen unbeteiligten Miene dagesessen hatte wie die Unschuld in Person. Josh hatte später im Behandlungsraum ihres Großvaters den wieder angenähten Daumen an der Leiche einer Frau gesehen.
    Er grinste, was ihn beinahe versöhnlich gestimmt hätte.
    Mit einem leisen Klacken ließ er seinen Stuhl wieder in eine für Lehrer akzeptable Position sinken und starrte aus dem Fenster. Draußen lief Granaten-Finke in seinem Arbeitsoverall über den Schulhof und pikte die Hinterlassenschaften der Schüler vom Boden auf. Dabei bewegte sich der Mund des Hausmeisters unter gemurmelten Flüchen. Josh brauchte ihn nicht zu hören, um zu ahnen, dass er gegen die Klugscheißer, wie er die Schüler nannte, wetterte. Kaum vorstellbar, dass dieser Mann angeblich vor Jahren als Legionär im Kosovokrieg gekämpft haben sollte! Nach einer traumatischen Verletzung soll er zu seiner Einheit im Pydna zurückgekehrt sein. Damals hatte die Bundeswehr für kurze Zeit das Gelände der ehemaligen Raketenabschussbasis übernommen, stand jedoch zum Zeitpunkt von Finkes Ankunft kurz vor der Auflösung. Für den ausgedienten Legionär hatte man anscheinend keine Verwendung mehr, so dass dieser im Rahmen irgendeines Wiedereingliederungsprozesses den Job als Hausmeister am Gymnasium erhalten hatte. Dabei hasste Finke Kinder und machte keinen Hehl daraus – zumindest, solange kein Erwachsener in der Nähe war. Darin stellte er sich äußerst geschickt an. Schüler waren für ihn so etwas wie Probanden, an denen er sich in psychologischer Kriegführung üben konnte. Ganz dicht war Finke mit Sicherheit nicht.
    Mit einem scharrenden Geräusch schob Josh den Stuhl nach hinten. Er stand auf und bewegte sich auf das Lehrerpult zu. »Ich bin mal eben vor der Tür«, sagte er, woraufhin der Lehrer ihm zunickte.
    Der leere Gang mit seinen hohen Gewölbedecken und dem strapazierfähigen Linoleumboden verstärkte in Josh das Gefühl von Langeweile. Es gäbe tausend Dinge zu erledigen, und er vergeudete hier seine Zeit! Er hatte nicht vor, sich zu beeilen, und schlenderte behäbig weiter. Seine Fingernägel erzeugten ein rhythmisches Klacken, wenn er seine Hand über die Wandpaneele gleiten ließ. Den Schmutzspuren in Höhe der Kleiderhaken nach zu urteilen, waren schon andere auf diese Idee gekommen. Im Gegensatz zu den später entstandenen Neubauten auf der anderen Seite des Schulhofes war das ehemalige Herrenhaus, in dem sich die Klassenräume der Oberstufe befanden, in einem auffallend gepflegten Zustand. Für Josh war es nichts weiter als ein alter Kasten, in dem man ebenso gut einen Knast hätte einrichten können.
    Er passierte den Bereich des ausladenden Treppenaufgangs, als aus der Ferne das Geräusch von herannahenden Martinshörnern erklang. Das hörte man selten in dieser Gegend. Josh blieb auf halbem Weg vor dem Treppengeländer stehen und blickte durch die gegenüberliegenden Fenster. Wie üblich war nichts zu sehen außer Grün, das direkt am Schulhof angrenzte. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er annehmen können, die Schule befände sich mitten im Dschungel.
    »Rumtreiben auf den Gängen ist während des Unterrichts verboten!«
    Erschrocken fuhr Josh herum. »Mach ich nicht!«
    »Und ich bin der Weihnachtsmann«, knurrte Hausmeister Finke und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sein Witz alles andere als ein solcher war. »Wenn einer von euch hier rumlungert, kommt jedes Mal irgendein

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