Die Totensammler
mein Eigentum in die Hand drückt; die Situation wirkt wie ein umgekehrter Raubüberfall. Ich biete ihm etwas Geld als Finderlohn an, doch er winkt ab und meint, dass er mir die Brieftasche nicht deswegen zurückgegeben hat. Schließlich komme es darauf an, das Richtige zu tun, und nicht darauf, den eigenen Vorteil zu suchen.
Von der Mall aus fädle ich mich in den spärlichen Verkehr ein, und je näher ich dem Pflegeheim komme, desto spärlicher wird er. Seit ich das letzte Mal dort war, wurde die Auffahrt gepflastert. Die Bäume, von denen sie gesäumt wird, lassen in der Hitze die Äste hängen. Das Gebäude besteht aus grauen Ziegelsteinen und ist etwa vierzig Jahre alt, es wirkt nicht, als könnte man hier leben. Die malerische Anlage hingegen ist fünf Hektar groß und gäbe ein hübsches Postkartenmotiv ab. Ich trete durch das Tor in die klimatisierte Empfangshalle. Hier hat sich nichts verändert, und das wird wohl auch so bleiben, Schwestern eingeschlossen. Schwester Hamilton begrüßt mich mit einer kurzen Umarmung und sagt, es sei schön, mich zu sehen. Ich glaube, sie meint es ehrlich. Seit drei Jahren kümmert sie sich um meine Frau, und vor meiner Gefängnisstrafe habe ich versucht, jeden Tag hier rauszufahren. Ich habe Schwester Hamilton hunderte Male gesehen, trotzdem weiß ich nur, dass sie kein Parfum benutzt und in jenem zeitlosen Alter ist, bei dem sich schwer schätzen lässt, ob jemand fünfzig, sechzig oder siebzig ist. Sie folgt mir zu Bridgets Zimmer und bringt mich dabei auf den neuesten Stand – allerdings gibt es kaum was Neues. Bridget ist vier Monate älter geworden, das ist alles. Sie hockt auf einem Stuhl und schaut auf die Anlage hinaus, wo ein Gärtner ohne Hemd einen Rasenmäher steuert und Streifen in den Rasen fräst. Sie hat etwas Farbe bekommen. Bevor die Hitzewelle zugeschlagen hat, hat sie also jemand nach draußen geschoben, damit sie ein wenig in der Sonne sitzen kann. Ich halte Bridgets Hand, die genauso warm ist wie beim letzten Mal. Ich bleibe eine Stunde bei ihr. Im Zimmer stehen Fotos von unserer Tochter.
»Du hast mir gefehlt«, sage ich zu ihr, und ich hoffe, ich habe ihr auch gefehlt, obwohl sie wahrscheinlich nicht mal mitgekriegt hat, dass ich fort war und jetzt wieder da bin. Meine Frau ist wie ein Schwamm, der die Worte aufsaugt, ohne etwas damit anfangen zu können. »Tut mir leid«, füge ich hinzu.
Auf dem Weg zurück in die Stadt werfe ich einen Blick auf das Handy, inzwischen hat es ein Netz. Ich tippe Schroders Nummer ein.
»Was kannst du mir über Emma Green sagen?«, frage ich.
»Das Mädchen von dem Unfall? Warum fragst du, Tate?«
»Du hast mir gar nicht erzählt, dass sie verschwunden ist.«
»Das ist nicht mein Fall, und wie’s momentan aussieht, wissen wir nicht, ob sie überhaupt verschwunden ist.«
»Doch, das wisst ihr. Sie hat sich seit fast zwei Tagen nicht gemeldet, und das heißt, sie ist verschwunden. Ihr hofft nur, dass sie zusammen mit ihrem Freund durchgebrannt ist, stimmt’s?«
»Wie gesagt, Tate, das ist nicht mein Fall. Warum fragst du danach?«
»Ihr Vater war bei mir.«
»Jetzt erzähl mir nicht, er hat versucht, dich anzuheuern, damit du sie aufspürst.«
»Nein.«
»Heißt das, er hat es nicht versucht, und du hast es ihm selbst angeboten? Oder hat er dich nicht angeheuert, und du machst es umsonst? Was davon?«
»Ein bisschen von beidem.«
»Mensch, Tate, du hast nicht mal eine Zulassung als Privatdetektiv.«
»Wie gesagt, er hat mich nicht angeheuert. Das ist kein richtiger Auftrag.«
»So oder so, du darfst das nicht.«
»Dich hat das ja auch nicht davon abgehalten, mich heute um Hilfe zu bitten.«
»Das ist was anderes.«
»Ach ja? Wirklich?«, frage ich.
»Hör zu, Tate, wir suchen nach ihr. Ehrlich. Zwei Beamte se hen sich gerade an ihrem Arbeitsplatz um. Niemand glaubt, dass sie durchgebrannt ist. Wir sind überzeugt, dass ihr was Schlimmes zugestoßen ist. Aber keiner hat was mitgekriegt. Sie ist einfach verschwunden. Jeden Tag verschwinden Menschen in die ser Stadt. Wir haben kistenweise Akten von Vermissten, die wir nicht finden konnten. Aber wir halten die Augen offen, ehrlich.«
»Irgendwelche Hinweise?«
»Wenn wir irgendwelche Hinweise hätten, hätte sich ihr Vater nicht so schnell mit dir in Verbindung gesetzt.«
»Und was glaubst du? Ist sie tot?«
»Ich hoffe nicht.«
»Das ist keine richtige Antwort, Carl.«
»Lass die Finger davon, Tate.«
»Ich kann nicht.«
»Warum? Weil du sie
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