Die Totgesagten
unwirklich. Auf einen Schlag wurde ihr gesamtes Leben ausradiert. Da sie keine Familie und keine Verwandten mehr hatte, wurde sie in eine Welt aus Pflegefamilien und vorübergehenden Lebensumständen gestoßen. Sie lernte Dinge, auf die sie gerne verzichtet hätte. Ihre alte Selbstsicherheit ging verloren. Ihre Freunde begriffen nicht, dass die Geschehnisse sie seelisch veränderten. Dass dieser Tag ihr etwas von ihrem Ich genommen hatte. Sie versuchten es eine Weile, doch dann überließen sie sie ihrem Schicksal.
Seit dieser Zeit holte sie sich bei älteren Jungs und coolen Mädchen Bestätigung. Nun reichte es nicht mehr, nor malund unscheinbar zu sein. Ihr Name, Lillemor, passte auch nicht mehr. Sie fing mit dem an, was sie sich leisten konnte. Im Badezimmer von einem ihrer zahlreichen älteren Freunde wurden ihre Haare blond. Ihre alten Kleidungsstücke wurden gegen neue, engere, kürzere, aufreizendere ausgetauscht. Sie hatte das Ticket gefunden, mit dem sie aus dem Elend fliehen konnte: Sex. Damit konnte sie sich Aufmerksamkeit und neue Klamotten kaufen. Dadurch konnte sie sich von der Masse abheben. Einer ihrer Freunde hatte richtig viel Geld. Der finanzierte die Brüste. Sie hätte sie lieber etwas kleiner gehabt, aber da er bezahlte, hatte er das letzte Wort. Er wollte Körbchengröße E, und so geschah es dann auch. Nach der äußeren Verwandlung fehlte nur noch das Etikett. Der Freund nach dem Busenfetischist nannte sie seine kleine Barbiepuppe. Damit war die Namensfrage gelöst. Nun brauchte sie nur noch ein Forum für ihr neues Ich. Einige kleine Fotoshootings der leichtbekleideten oder gänzlich unbekleideten Art waren der Beginn. Big Brother war der Durchbruch. Sie wurde zum Star der Serie. Dass das gesamte schwedische Volk dabei Anteil an ihrem Sexualleben nahm, spielte keine Rolle. Wen kümmerte das schon? Es gab keine Familie, die sie am Telefon beschimpfte, weil sie ihren Ruf beschmutzte. Sie war ganz allein auf der Welt.
Meistens gelang es ihr, nicht an das Leben vor Barbie zu denken. Sie hatte Lillemor so tief in ihrem Bewusstsein vergraben, dass sie kaum noch existierte. Genauso hatte sie es mit der Erinnerung an ihren Vater gemacht. Sie erlaubte sich nicht, an ihn zu denken. Wenn sie überleben wollte, durften der Klang seines Lachens oder das Gefühl seiner liebkosenden Hand auf ihrer Wange in ihrem neuen Leben nicht vorkommen. Es tat zu weh. Doch das morgendliche Gespräch mit dem Psychologen hatte Saiten in ihr zum Schwingen gebracht, die nun unaufhörlich in ihrer Brust vibrierten.
Sie schien nicht die Einzige zu sein. Nachdem alle Teil nehmerder Reihe nach mit Lars in dem kleinen Raum hinter der Bühne verschwunden waren, hatte sich Beklemmung breitgemacht. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sich die negative Stimmung ausschließlich auf sie richtete. Als ob ihr jemand von hinten insgeheim böse Blicke zuwerfen würde. Doch immer, wenn sie sich umdrehte, war es wieder vorbei.
Gleichzeitig spürte sie diese Unruhe in ihrem Innern. Lillemor wollte sie auf irgendetwas aufmerksam machen. Doch Barbie unterdrückte das Gefühl. Gewisse Dinge durfte sie nicht zulassen, das konnte sie sich nicht erlauben.
Die Waren zogen an ihr vorüber. Es hörte nie auf.
Die Recherche im Archiv gestaltete sich wie immer trostlos und mühsam. Nichts war da, wo es hingehörte. Umgeben von lauter Kisten hatte sich Patrik im Schneidersitz auf dem Fußboden niedergelassen. Er wusste, was für ein Dokument er suchte, und hatte in einem Anflug von Naivität angenommen, es in der Kiste mit der Aufschrift »Fortbildung« zu finden. Doch da hatte er sich getäuscht. Als er Schritte auf der Treppe hörte, blickte er auf. Martin stand vor ihm.
»Annika hat gesagt, du wärst in den Keller gegangen. Was machst du hier?« Staunend betrachtete Martin die vielen Kisten.
»Ich suche nach Aufzeichnungen, die ich vor einigen Jahren auf einer Konferenz in Halmstad gemacht habe. Man möchte glauben, sie wären systematisch archiviert worden, aber nichts da. Irgendein Idiot hat alles durcheinandergebracht, und nun stimmt hier gar nichts mehr.« Er warf einen Stapel Papier in die richtige Kiste.
»Tja, Annika schimpft schon lange mit uns, weil wir hier unten keine Ordnung halten. Angeblich legt sie immer alles am richtigen Ort ab, aber dann wachsen den Papieren Beine. Behauptet sie.«
»Ichbegreife nicht, warum man die Dinge nicht einfach dorthin zurücklegen kann, wo man sie rausgenommen hat. Ich weiß genau, dass ich
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