Die Totgesagten
mit mir durchzuackern.«
Da Pedersen bejahte, fuhr Patrik fort: »Diese blauen Flecken am Mund, lässt sich sagen, woher sie die hat?« Er machte sich auf dem Rand Notizen.
»Und der Alkohol, kann man da eine Aussage über den Zeitraum treffen, in dem sie ihn zu sich genommen hat? Ich meine nicht die Uhrzeit, doch, die natürlich auch, sondern wie lange es gedauert hat. Hat sie das Zeug in einem Zug in sich hineingeschüttet oder …« Er hörte aufmerksam zu, und der Stift glitt übers Papier.
»Interessant, interessant. Ist Ihnen bei der Obduktion noch etwas aufgefallen?« Patrik ließ den Stift eine Weile ruhen, während er zuhörte. Plötzlich fiel ihm auf, wie fest er sich den Hörer ans Ohr drückte, es tat richtig weh. Er lockerte den Griff ein wenig.
»Reste von Klebeband am Mund. Das ist zweifellos eine wichtige Information. Aber darüber hinaus haben Sie nichts für mich?« Er seufzte über die nicht sonderlich informative Antwort und knetete sich mit Zeigefinger und Daumen seiner freien Hand frustriert die Augenbrauen.
»Okay, dann muss ich mich damit zufriedengeben.« Widerwillig legte Patrik auf. Eigentlich hatte er sich mehr erhofft.Erneut nahm er die Fotos vom Unfallort zur Hand und betrachtete sie genau. Er musste irgendetwas finden, was seinem störrischen Gedächtnis auf die Sprünge half. Am meisten irritierte ihn, dass er sich nicht hundertprozentig sicher war, ob es die Erinnerung wirklich gab, nach der er suchte. Vielleicht bildete er es sich nur ein. War das Ganze nur eine seltsame Art von Déjà-vu-Erlebnis? Hatte er etwas Ähnliches im Fernsehen gesehen oder anderswo aufgeschnappt, was sein Hirn nun hartnäckig dazu trieb, nach etwas zu suchen, was gar nicht existierte?
Genau in dem Moment, als er die Papiere frustriert in die Ecke werfen wollte, funkte es zwischen den Synapsen. Er lehnte sich vor, um das Foto, das er in den Händen hielt, noch einmal genauer zu betrachten. Ein Triumphgefühl stieg in ihm auf. Vielleicht lag er doch nicht so falsch. Vielleicht hatte die ganze Zeit etwas sehr Konkretes im dunkelsten Winkel seines Gedächtnisses gelauert.
Mit einem Schritt war er an der Tür. Er musste dringend das Archiv aufsuchen.
Lustlos nahm sie die Waren vom Laufband, um die Strichcodes einzulesen. Tränen stiegen hinter ihren Lidern auf, doch Barbie schluckte sie eisern hinunter. Sie wollte sich nicht bloßstellen, indem sie vor der Kamera heulte.
Das Gespräch am Morgen hatte so viele Gefühle aufgewühlt. Der ganze Schlamm, der so lange auf dem Grund gelegen hatte, kam nun an die Oberfläche. Sie betrachtete Jonna, die an der Kasse vor ihr saß. In gewisser Weise war sie neidisch auf sie. Sie beneidete Jonna nicht um ihre miese Laune und die Sache mit dem Schlitzen. Barbie hätte sich nie selbst mit einem Messer in die eigene Haut schneiden können. Sie beneidete Jonna, weil es ihr offenbar gleichgültig war, was die anderen über sie dachten. Für Barbie gab es nichts Wichtigeres. Aber so war es nicht immer gewesen. Die Schulfotos, die diese beschissene Boulevardzeitung ausgegraben hatte, waren der Beweis. Auf denBildern war sie klein, dünn und dunkelhaarig, ihre Zähne sahen riesig aus, und ihre Brüste waren nahezu unsichtbar. Als diese Fotos auf den Titelseiten abgedruckt wurden, war sie verzweifelt. Doch nicht aus dem Grund, den alle vermuteten. Nicht weil sie Angst gehabt hätte, die Leute könnten dahinterkommen, dass weder ihre Haarfarbe noch ihre Titten echt waren. So bescheuert war sie nun auch wieder nicht. Es tat ihr weh, zu sehen, was heute nicht mehr da war. Das fröhliche Lachen. So voller Selbstvertrauen, voller Zuversicht. Damals war sie glücklich und zufrieden mit ihrem Leben gewesen, hatte in sich geruht und sich geborgen gefühlt. Doch dann hatte sich alles verändert. An dem Tag, als ihr Vater starb.
Ihr Vater und sie hatten sich so gut verstanden. Ihre Mutter war an Krebs gestorben, als Barbie noch ganz klein war. Irgendwie hatte es ihr Vater trotzdem geschafft, ihr eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen, nie hatte sie das Gefühl gehabt, dass ihr irgendetwas fehlte. Später hatte sie erfahren, dass die erste Zeit nach dem Tod ihrer Mutter das reinste Chaos gewesen war. Sie selbst war ja noch ein Säugling, als das Entsetzliche passierte. Ihr Vater hatte den Preis gezahlt und aus der Sache gelernt. Er hatte nicht aufgegeben, sondern für sich und seine Tochter ein Leben aufgebaut. Bis zu jenem Tag im Oktober.
Als es passierte, erschien es ihr total
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