Die Totgesagten
einen starken Mann zu sehen bekommen, wenn sie heute Abend den Fernseher einschaltete.
Seit Barbies Tod zeigten die Leute des Öfteren mit dem Finger auf sie, manche blieben tuschelnd stehen. An und für sich war sie seit Big Brother daran gewöhnt, angeglotzt zu werden. Aber das hier war etwas ganz anderes. Das war keine Neugier oder Bewunderung, weil man sie aus dem Fernsehen kannte. Das war eine Mischung aus Sensationslust und medialer Blutrünstigkeit, die ihr unter die Haut ging.
Nachdem sie die Sache mit Barbie erfahren hatte, wollte sie sofort abreisen. Ihr erster Impuls war Flucht, sie wollte sich an den einzigen Ort zurückziehen, wo sie hinkonnte. Gleichzeitig wusste sie, dass das keine Alternative war. Zu Hause würde sie auf die gleiche Leere stoßen, die gleiche Einsamkeit. Niemand würde für sie da sein, sie in den Arm nehmen und ihr über den Kopf streichen. Ihr all die liebevollen und trostreichen Berührungen geben, nach denen ihr ganzer Körper schrie. Weder hier noch zu Hause. Da konnte sie genauso gut hierbleiben.
An der Kasse hinter ihr saß nun eine von den normalen Angestellten. Trotzdem hatte Jonna das Gefühl, dass der Platz leer war. Sie war erstaunt, dass Barbie eine so große Leerstelle hinterlassen hatte. Meistens war sie Jonna nur auf die Nerven gegangen, und Jonna hatte Barbie kaum alsMenschen betrachtet. Doch im Nachhinein wurde ihr bewusst, wie viel Lebensfreude Barbie ausgestrahlt hatte. Obwohl sie so unsicher gewesen war und ständig um Aufmerksamkeit kämpfte. Ihre gute Laune hatte sie nie verloren. Sie war froh gewesen, dabei zu sein, und hatte die anderen immer aufgemuntert. Zum Dank hatten sie sich über sie lustig gemacht und sie als dumme Tussi abgestempelt, die keinen Respekt verdiente.
Jonna zog sich die Ärmel hinunter. Heute hatte sie keine Lust auf schiefe Blicke, Mitleid und Ekel. Die Wunden waren tiefer als sonst. Seit Barbies Tod hatte sie sich jeden Tag geritzt. Fester und brutaler als je zuvor. Immer weiter ins Fleisch geschnitten, bis die Haut das Blut ausspuckte. Doch der rote, pulsierende Anblick dämpfte ihre Angst nicht mehr. Nichts schien mehr zu helfen.
Manchmal hörte sie im Kopf die empörten Stimmen, wie ein Tonband. Von allen Seiten redeten sie auf sie ein. Es war so schrecklich. Nichts stimmte mehr. Grauenhaft. Sie konnte nicht verhindern, dass das Dunkle in ihr brodelte. Dieses Dunkle, das sie sonst mit dem Blut aus ihrem Körper zu schwemmen versuchte, hatte sich nun aufgestaut wie besinnungslose Wut.
In das Gefühl der Leere mischte sich Scham. Und Angst. Die Schnittwunden pochten. Mehr Blut, das hinaus drängte.
»Jetzt machen wir diesen verdammten Zirkus dicht!« Uno Brorsson schlug mit der Faust auf den großen Konferenztisch im Rathaus und sah Erling böse an. Fredrik Rehn, der in der Sitzung den Standpunkt der Produktionsfirma vertreten sollte, würdigte er keines Blickes.
»Jetzt beruhige dich mal.« Erling hätte Uno am liebsten vor die Tür gesetzt wie ein unartiges Kind, aber Demokratie war eben Demokratie. »Der Vorfall ist ungeheuer tragisch, aber deswegen sollten wir keine übereilten und emotionalen Entscheidungen fällen. Wir sind heute zu sammengekommen,um vernünftig über das Projekt zu sprechen. Ich habe Fredrik Rehn gebeten, seine Meinung über die Zukunft des Projekts darzulegen, und empfehle euch, ihm gut zuzuhören. Fredrik hat schließlich Erfahrung mit solchen Fernsehproduktionen. Zwar ist auch für ihn das Ereignis neu und, wie gesagt, überaus tragisch, aber er weiß mit Sicherheit besser als wir, wie man mit der Geschichte umgehen sollte.«
»Arroganter Großstadtschnösel.«
Fredrik ignorierte Unos Kommentar. Er stellte sich hinter seinen Stuhl und stützte sich auf die Rückenlehne.
»Ich verstehe die Aufregung. Auch wir, das gesamte Team und der Vorstand in Stockholm, trauern um Barbie – Lillemor – und bedauern, was passiert ist.« Er räusperte sich und blickte bedrückt zu Boden. Nach einem Moment unbehaglichen Schweigens blickte er wieder auf. »Aber wie man in Amerika sagt: The show must go on . Genauso wenig, wie Sie Ihre Arbeit niederlegen dürften, falls einem von Ihnen, Gott bewahre, etwas zustoßen sollte, können wir das tun. Ich bin vollkommen überzeugt, dass Barbie – Lillemor – gewollt hätte, dass wir weitermachen.« Wieder senkte er schweigend den Blick.
Vom anderen Ende des Tischs war ein Schluchzen zu hören. »Das arme Mädchen.« Gunilla Kjellin wischte sich eine Träne aus dem
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