Die Totgesagten
Gefühl, demnächst buchstäblich loszusabbern.
»Was hältst du davon: Krebsschwänze auf einem Salatbett mit Limonenvinaigrette als Vorspeise, Heilbutt mit Basilikumrisotto und in Honig glasierten Karotten als Hauptgericht und zum Nachtisch Käsekuchen auf Himbeersauce.«
»Wie lecker!« Auch Anna leckte sich die Lippen. »Besonders der Heilbutt klingt super.« Sie trank einen Schluck Kaffee, wickelte die Wolldecke noch fester um sich und schaute aufs Meer.
Erica staunte noch immer, wie sehr sich ihre Schwester in der letzten Zeit verändert hatte. Sie betrachtete Anna von der Seite und entdeckte eine Ruhe in ihrem Gesicht, die sie an ihr so noch nie gesehen hatte. Sie hatte sich immer Sorgen um Anna gemacht. Es war schön, ein bisschen loslassen zu können.
»Papa wäre froh, wenn er uns so sehen könnte. Er hat immer gesagt, dass wir uns als Schwestern näherkommen sollen. Seiner Meinung nach habe ich dich zu sehr bemuttert.«
»Ich weiß.« Anna drehte sich lachend zu Erica um. »Mit mir hat er auch darüber geredet. Er wollte, dass ich mehr Verantwortung übernehme, erwachsen werde und nicht alles dir überlasse. Denn das habe ich. Auch wenn ich mich immer gegen deine Fürsorge gewehrt habe, hat sie mir im Grunde gefallen. Irgendwie habe ich von dir erwartet, dass du die reife Beschützerin spielst.«
»Wie es wohl gewesen wäre, wenn Elsy diese Rolle übernommen hätte? Eigentlich war es ja ihre Aufgabe, nicht meine.« Erica spürte, wie sich ihr beim Gedanken an die Mutter die Brust zuschnürte. Die Mutter, die in ihrer Kindheitkörperlich anwesend, aber mit den Gedanken immer woanders gewesen war.
»Es bringt nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.« Nachdenklich zog sich Anna die Wolldecke bis unters Kinn. Die Sonne schien ihnen ins Gesicht, aber der kalte Wind kroch in jede Ritze. »Wer weiß, was sie mit sich herumgeschleppt hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je über ihre Kindheit und ihr Leben vor Papa gesprochen hat. Ist das nicht seltsam?« Verwundert stellte Anna fest, dass sie noch nie darüber nachgedacht hatte. Es war einfach so gewesen, wie es war.
»Alles an ihr war seltsam.« Erica lachte. Aber in ihrem Lachen schwang ein verbitterter Unterton mit.
»Im Ernst. Hat Elsy jemals von ihrer Kindheit oder ihren Eltern erzählt? Oder wie sie Papa kennengelernt hat? Mir fällt keine einzige Bemerkung ein. Und Bilder hatte sie auch nicht. Ich weiß noch, dass ich einmal nach Fotos von Oma und Opa gefragt habe. Da wurde sie total sauer und fuhr mich an, sie wisse nicht, wo sie das alte Zeug hingelegt habe. Ist das nicht ein bisschen merkwürdig? Jeder bewahrt doch Bilder von früher auf.«
Anna hatte recht. Auch Erica hatte nie etwas aus Elsys Vergangenheit gesehen oder gehört. Ihre Mutter schien erst seit dem Augenblick zu existieren, in dem das Hochzeitsfoto mit Tore aufgenommen wurde. Davor gab es … nichts.
»Du wirst wohl ein bisschen recherchieren müssen.« Anna wollte das Thema wechseln. »Das kannst du doch so gut. Aber nun sollten wir uns wieder der Menüfolge widmen. Hast du dich entschieden? Dein letzter Vorschlag klang wahnsinnig lecker!«
»Ich muss es zuerst mit Patrik besprechen. Allerdings kommt es mir etwas trivial vor, ihn mit solchen Kleinigkeiten zu belästigen, wenn er mitten in einem Mordfall steckt. Es erscheint mir irgendwie so … oberflächlich.«
Sie legte sich die Menüvorschläge auf den Schoß und starrte düster auf den Horizont. In den letzten Tagen hatte sie Patrik kaum zu Gesicht bekommen und vermisste ihn. Natürlich verstand sie, warum er so hart arbeitete. Der Mord an diesem Mädchen war grauenhaft, und Patrik wollte um jeden Preis den Schuldigen finden. Aber wenn bei ihm beruflich die Hölle los war und er so ungeheuer wichtige Dinge zu tun hatte, wurde ihr umso klarer, dass sie an einem Mangel an erwachsener Beschäftigung litt. Ihre Aufgabe war natürlich auch wichtig, sie wusste und fühlte, dass es im Grunde das Wichtigste überhaupt war, Maja eine gute Mutter zu sein. Trotzdem sehnte sie sich danach, etwas … Erwachsenes zu machen. Sie wollte auch Erica sein und nicht nur Majas Mama. Seit Anna aus dem Schattenland zurückgekehrt war, hoffte sie, wieder ein bisschen Zeit zum Schreiben zu finden. Als sie Anna von der Idee erzählte, hatte sich diese mit Begeisterung bereit erklärt, sich währenddessen um Maja zu kümmern.
Daher suchte Erica bereits nach Anregungen. Sie wollte einen realen Mordfall finden, der einen interessanten
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