Die Totgesagten
Mietshaus, in dem sie wohnte. Als sie unten klingelten, wurden sie sofort hereingelassen. Kaum dass sie das Haus betreten hatten, ging zwei Stockwerke weiter oben die Tür auf. Eine kleine Frau mit dunklen Haaren erwartete sie und führte sie nach der Begrüßung sofort ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch, der für Kaffee und Kuchen gedeckt war, lag ein Spitzendeckchen. Hübsche kleine Tassen, die sicher zum feinen Service gehörten, kleine Servietten und Kuchengabeln, ein zierliches Milchkännchen und ein Zuckerschälchen mit silberner Zange. Es sah aus, als wären sie zu einem Kaffeekränzchen für Puppeneingeladen, so zart und zerbrechlich war das Geschirr. Auf einem großen Porzellanteller im selben Dekor lagen fünf verschiedene Kekssorten.
»Nehmen Sie Platz.« Sie zeigte auf ein geblümtes Sofa. Es war auffallend still in der Wohnung. Die Dreifachverglasung hielt den Straßenlärm ab. Nur das Ticken einer alten Wanduhr war zu hören. Patrik erkannte die verschnörkelte goldene Uhr wieder. Genau so eine hatte seine Großmutter auch gehabt.
»Möchten Sie Kaffee? Ich hätte auch Tee.« Sie war so eifrig um ihr Wohl besorgt, dass es Patrik in der Seele weh tat. Er ahnte, dass sie nicht oft Besuch bekam.
»Wir nehmen gerne Kaffee.« Er lächelte. Während sie vorsichtig einschenkte, fiel ihm auf, dass sie genauso klein und zerbrechlich aussah wie die Tassen. Sie war knapp einen Meter sechzig groß und zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt, tippte er. Aber er war sich nicht sicher, weil sie von einer alterslosen Traurigkeit gezeichnet war. Als wäre die Zeit stehengeblieben. Seltsamerweise schien sie seine Gedanken zu lesen.
»Rasmus’ Tod ist nun fast dreieinhalb Jahre her.« Ihre Augen wanderten zu den Fotos auf dem großen Sekretär. Patrik erkannte den Mann wieder, obwohl die gerahmten Bilder wenig Ähnlichkeit mit den Obduktionsfotos hatten.
»Darf ich mir einen Keks nehmen?«, fragte Martin.
Eva wendete den Blick von den Porträts ihres Sohnes ab und nickte eifrig. »Bitte sehr, bedienen Sie sich.«
Martin legte sich ein paar Kekse auf seinen kleinen Teller und sah Patrik fragend an. Der atmete tief ein, um sich zu sammeln.
»Wie Sie bereits am Telefon erfahren haben, untersuchen wir Rasmus’ Tod noch einmal etwas näher.«
»Das kann ich verstehen.« Ihre traurigen Augen leuchteten auf. »Allerdings verstehe ich nicht, warum sich die Polizei aus – war es Tanum? – damit beschäftigt. Müsste das nicht die Polizei hier in Borås tun?«
»Theoretischja, aber die Ermittlungen hier sind abgeschlossen. Jedoch sehen wir plötzlich eine Verbindung zu einem Fall in unserem Bezirk.«
»Es gibt noch einen Fall?« Verblüfft ließ Eva ihre Kaffeetasse sinken.
»Ja, aber ich kann jetzt nicht auf die Details eingehen«, wehrte Patrik ab. »Es wäre uns jedoch eine große Hilfe, wenn Sie uns alles erzählen würden, was passiert ist, als Rasmus starb.«
Sie seufzte. Patrik begriff, dass ihr davor graute, in den Erinnerungen zu wühlen, sosehr sie sich auch freute, dass die Ermittlungen neu aufgerollt wurden. Er ließ ihr Zeit.
Nach einer Weile begann sie mit zitternder Stimme: »Es war am zweiten Oktober vor drei, ja, vor fast dreieinhalb Jahren, … Rasmus … wohnte hier bei mir. Er war nicht in der Lage, selbst einen Haushalt zu führen. Deshalb durfte er bei mir bleiben. Er ging jeden Tag zur Arbeit. Um acht Uhr ging er zu Hause los. Er war schon seit acht Jahren an diesem Arbeitsplatz und fühlte sich dort sehr wohl. Sie waren nett zu ihm.« Sie lächelte. »Nachmittags um drei kam er wieder. Er hat sich nie mehr als zehn Minuten verspätet. Nie. Als es dann …«, ihre Stimme versagte, doch dann fasste sie sich wieder, »als es Viertel nach drei wurde, dann halb vier und schließlich vier, da wusste ich, dass etwas passiert war. Ich rief sofort die Polizei an, aber die hörten mir gar nicht zu. Sie sagten nur, er würde sicher bald nach Hause kommen, er sei ein erwachsener Mann, und auf Grund eines so vagen Verdachts könnten sie nicht aktiv werden. Genau das haben sie gesagt: ›vager Verdacht‹. Meiner Meinung nach gibt es nichts Zuverlässigeres als die Intuition einer Mutter. Aber was weiß ich schon …«
»Wie …« Martin suchte nach den richtigen Worten. »Wie viel Unterstützung brauchte Rasmus im Alltag?«
»Sie meinen, wie zurückgeblieben er war?«, fragte Eva unverblümt. Martin nickte widerwillig.
»AmAnfang gar nicht. Rasmus hatte in fast allen Fächern hervorragende Noten und war
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