Die Totgesagten
mir im Haushalt eine ungeheure Hilfe. In dieser Zeit gab es nur uns.« Sie lächelte so liebevoll und traurig, dass Patrik den Blick abwenden musste. »Erst nach dem Autounfall mit achtzehn hat er sich … verändert. Er erlitt eine Schädelverletzung und wurde nie wieder er selbst. Er konnte nicht allein für sich sorgen, nicht ausziehen und sich ins Leben stürzen wie andere junge Leute. Er blieb hier, bei mir. Wir haben uns zusammen eine Art Leben aufgebaut. Es war ein gutes Leben, das fanden wir beide, glaube ich. So gut es die Umstände eben erlaubten. Natürlich hatte er auch dunkle Momente, aber wir haben alles gemeinsam durchgestanden.«
»Waren diese dunklen Momente der Grund dafür, dass die Polizei nicht von einem Mord ausging?«
»Ja. Rasmus hatte einmal versucht, sich das Leben zu nehmen. Zwei Jahre nach dem Unfall. Als ihm klar wurde, wie sehr er sich verändert hatte und dass sein Leben nie wieder so werden würde wie vorher. Aber ich habe ihn rechtzeitig gefunden. Und er hat mir versprochen, so etwas nie wieder zu machen. Ich weiß einfach, dass er sein Versprechen gehalten hat.« Sie schaute zwischen Patrik und Martin hin und her und ließ ihren Blick auf jedem einen Moment ruhen.
»Was passierte an dem Tag, als man ihn tot auffand?« Patrik nahm sich ein Plätzchen. Sein knurrender Magen sagte ihm, dass es Zeit fürs Mittagessen war, doch mit ein bisschen Zucker würde er den Hunger vorerst in Schach halten.
»Es hat geklingelt. Kurz vor acht. Als ich sie sah, wusste ich sofort Bescheid.« Mit ihrer Serviette tupfte sie sich eine Träne von der Wange. »Sie sagten, sie hätten Rasmus gefunden. Er sei von einer Brücke gesprungen. Das … das … war so absurd. So etwas hätte er nie getan. Außerdem behaupteten sie, er hätte vorher jede Menge getrunken. Aberdas stimmte einfach nicht. Rasmus trank nach dem Unfall nie wieder Alkohol. Nein, das konnte alles nicht sein, und das habe ich ihnen auch gesagt. Niemand hat mir geglaubt.« Sie senkte den Blick und wischte noch eine Träne weg. »Nach einer Weile haben sie den Fall zu den Akten gelegt. Für sie war es Selbstmord. Ich habe Kommissar Gradenius in regelmäßigen Abständen angerufen, damit er Rasmus nicht vergisst. Ich hatte auch das Gefühl, dass er mir glaubt, zumindest teilweise. Und nun tauchen Sie hier auf.«
»Ja.« Patrik machte ein nachdenkliches Gesicht. »Nun tauchen wir hier auf.« Er wusste nur zu gut, wie schwer es Angehörigen fiel, einen Selbstmord zu akzeptieren. Wie sie verzweifelt nach irgendeiner anderen Erklärung suchten, weil sie nicht wahrhaben wollten, dass der geliebte Mensch sie verlassen und ihnen so viel Leid zugefügt hatte.
Doch in diesem Fall war Patrik geneigt, Eva zu glauben. Der Tod von Rasmus gab die gleichen Rätsel auf wie der von Marit. Sein Bauchgefühl sagte ihm immer deutlicher, dass es hier einen Zusammenhang gab.
»Ist sein Zimmer noch unverändert?«
»Ja.« Eva stand auf. Sie schien dankbar für die Ablenkung zu sein. »Ich habe nichts verändert. Vielleicht finden Sie das … sentimental, aber mir ist nur das Zimmer von Rasmus geblieben. Manchmal setze ich mich auf seine Bettkante und rede mit ihm. Dann erzähle ich ihm, wie mein Tag war, wie das Wetter ist, was in der Welt so passiert. Ich bin ein verrücktes altes Weib, oder?« Sie lachte übers ganze Gesicht.
Patrik begriff, dass sie in ihrer Jugend ein süßes Mädchen gewesen sein musste. Nicht schön, aber süß. Ein Foto im Flur bestätigte es. Eine junge Eva mit einem Baby im Arm. Sie strahlte vor Glück, obwohl es nicht leicht gewesen sein konnte, das Kind allein großzuziehen. Vor allem damals.
»Hierist es.« Eva zeigte auf ein Zimmer am Ende des Flurs. Es war genauso sauber und ordentlich wie der Rest der Wohnung. Trotzdem hatte das Zimmer eine persönliche Note. Offenbar hatte Rasmus es selbst eingerichtet.
»Er liebte Tiere«, sagte Eva stolz und setzte sich aufs Bett.
»Ja, das sehe ich.« Patrik lachte. Überall hingen Tierposter. Auf Kissen und Tagesdecke waren Tiere abgebildet, und auf dem Boden lag ein großer Teppich mit einem Tigermotiv.
»Er träumte davon, als Tierpfleger im Zoo zu arbeiten. Die anderen Jungs wollten Feuerwehrmänner oder Astronauten werden, aber sein Traumberuf war Tierpfleger. Ich dachte, es würde sich mit der Zeit geben, aber Rasmus war ein richtiger Dickschädel. Bis …« Evas Stimme versagte. Sie räusperte sich und strich zärtlich über die Tages-decke. »Nach dem Unfall interessierte er
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