Die Totgesagten
Wohnzimmertisch legen dürfen, es hatte keinen Ärger gegeben, wenn sie den Senf mitten in den Kühlschrank stellte statt in das vorgesehene Fach in der Tür, und die Teppichfransen mussten auch nicht gekämmt werden. Es war wunderbar gewesen, und danach konnte sie wieder eine Woche strenge Disziplin ertragen. Doch nun hatte sie keine Freiheit und keine Zuflucht mehr. Sie saß in diesem blitzend sauberen Haus fest, in dem sie dauernd verhört und ausgefragt wurde. Frei atmen konnte sie nur, wenn die Schule früher aus war. Dann erlaubte sie sich kleine Rebellionen. Sie trank Kakao auf dem weißen Sofa, hörte Musik auf Olas CD -Player und zerwühlte die Kissen. Aber bevor er nach Hause kam, musste sie schnell wieder die alte Ordnung herstellen. Wenn er die Tür öffnete, war dann tatsächlich nichts mehr zu sehen. Sofie hattejedoch furchtbare Angst, dass er eines Tages früher von der Arbeit kommen und sie entdecken könnte. Allerdings war das höchst unwahrscheinlich. Ihr Vater hätte schon todkrank sein müssen, um seinen Arbeitsplatz auch nur eine Minute vor Feierabend zu verlassen. Als Abteilungsleiter bei Inventing betrachtete er sich als wichtiges Vorbild. Er erlaubte es sich genauso wenig, zu spät zu kommen, krankzufeiern oder früher nach Hause zu gehen, wie er es seinen Untergebenen durchgehen ließ.
Für Wärme war in diesem Haus immer Marit zuständig gewesen. Das merkte Sofie jetzt ganz deutlich. Ola stand für Klarheit, Sauberkeit und Kühle, während Marit Geborgenheit, Herzlichkeit, Freude und ein bisschen Chaos verkörpert hatte. Sofie fragte sich oft, was die beiden anfangs aneinander gefunden hatten. Wie konnten sich zwei Menschen, die so verschieden waren, ineinander verlieben, heiraten und ein Kind bekommen? Es war Sofie immer ein Rätsel gewesen.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie hatte noch eine gute Stunde Zeit. Sie zog sich in Olas Schlafzimmer zurück, das früher auch ihrer Mutter gehört hatte. Sie wusste, wo alles lag. Ganz hinten in einer Ecke des Kleiderschranks. Eine große Kiste mit den Gegenständen, die Ola als »Marits sentimentalen Plunder« bezeichnete. Weggeworfen hatte er sie trotzdem nicht. Es wunderte sie, dass ihre Mutter die Kiste beim Auszug nicht mitgenommen hatte, aber vielleicht hatte sie alles hinter sich lassen wollen, als sie ein neues Leben anfing. Nur ihre Tochter hatte sie mitnehmen wollen. Mehr brauchte sie nicht.
Sofie setzte sich auf den Boden und öffnete die Kiste. Darin lagen jede Menge Fotos, Zeitungsausschnitte, eine Babylocke von Sofie und die Plastikarmbänder, die Marit und sie im Kreißsaal bekommen hatten. Zum Beweis, dass sie zusammengehörten. In einer kleinen Dose klimperte etwas. Sie machte sie auf und stellte angewidert fest, dass zweiZähnchen darin lagen. Sicher ihre eigenen, aber deshalb nicht weniger eklig.
Sie brachte eine halbe Stunde damit zu, den Inhalt der Kiste genau in Augenschein zu nehmen. Dann stapelte sie alles ordentlich auf dem Fußboden. Verblüfft nahm sie zur Kenntnis, dass Marit als junges Mädchen genauso ausgesehen hatte wie sie jetzt. Sie hatte nie darüber nachgedacht, wie ähnlich sie sich waren. Aber es freute sie. Prüfend betrachtete sie das Hochzeitsfoto von Marit und Ola und versuchte, in ihren Gesichtern die späteren Eheprobleme zu finden. Wussten die beiden damals schon, dass es nie funktionieren würde? Sie meinte fast zu erkennen, dass es so gewesen war. Ola sah streng, aber zufrieden aus. Marits Gesichtsausdruck war beinahe gleichgültig, als hätte sie alle Gefühle ausgeschaltet. Sie wirkte definitiv nicht wie eine strahlende und glückliche Braut. Die Zeitungsausschnitte waren leicht vergilbt und knisterten spröde, als Sofie sie in die Hand nahm. Sie fand die Hochzeitsanzeige, ihre eigene Geburtsanzeige, eine Strickanleitung für Kindersöckchen, Rezepte für Festmenüs, Artikel über Kinderkrankheiten. Sofie hatte das Gefühl, ihre Mutter in den Händen zu halten. Es kam ihr fast so vor, als säße sie neben ihr und lachte sich mit ihr über die Reinigungstipps für Backöfen und die Bratenrezepte kaputt, die sie damals aufgehoben hatte. Sie betrachtete ein Foto von ihrer Mutter im Wochenbett, im Arm ein schrumpliges rotes Bündel. Marit sah so glücklich aus. In diesem Moment spürte Sofie geradezu, wie sie ihr lächelnd eine Hand auf die Schulter legte. Sofie legte die eigene Hand darüber und fühlte die Wärme, die von der Hand ihrer Mutter ausging. Doch dann wurden ihre Träume wieder von der
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