Die Traene des Drachen
Gesicht ruhen. Sie fuhr indes mit ihrer Theorie fort: „Dieses Wesen stammt von einem Volk, das mit diesem fremdartigen Aussehen geboren wird, davon gehe ich zumindest aus. Du hingegen bist zur Hälfte ein Mensch. Deine andere Hälfte tritt erst dann richtig zu Tage, wenn du Blut getrunken hast. Vielleicht ist diese blutrünstige Seite an dir eine Besonderheit, wenn nicht sogar eine Einzigartigkeit, die eben aus einer Verbindung zwischen einer Menschenfrau und einem solchen spitzohrigen Mann oder umgekehrt hervorgegangen ist...“ Während ihrer hitzigen Ausführungen, hatte Maél seine Hände auf ihre Schultern gelegt. Jadora und Finlay warf er jedoch noch einen bösen Blick zu, da diese ihr Lachen bei dem Wort spitzohrig nicht mehr zurückhalten konnten. Als er zu sprechen begann, tauchten seine Augen tief in ihre ein. „Elea, kleine Drachenreiterin, Seherin oder was immer du auch noch sein magst, wir könnten noch eine halbe Ewigkeit über meine Herkunft und meine guten oder bösen Charaktereigenschaften reden. Wir können dieses Gespräch gerne unter vier Augen später im Zelt fortsetzen. Jetzt aber sollten wir uns noch – bevor es stockdunkel ist - davon überzeugen, dass dein Stab wirklich das kann, was er in deinem Traum gezeigt hat. Findest du nicht auch?“ Ohne eine Reaktion von ihr abzuwarten, riss er sie unvermittelt in seine Arme und küsste sie leidenschaftlich. Er ließ ihre bebenden Lippen erst frei, als die acht Zuschauer verlegen zu hüsteln begannen. „Du hast recht, Maél“, antwortete sie etwas atemlos. „Ich habe auf einmal völlig vergessen, warum wir eigentlich hier sind. Aber du machst mich jedes Mal rasend damit, wenn du immer wieder behauptest, in dir stecke etwas Böses.“ Sie löste sich von ihm und kramte aus ihrem Rucksack den Stab. „Ich gehe dann jetzt zum Mittelpunkt des Kreises, wie ich es geträumt habe“, sagte sie mit unsicherer Stimme. „Warte! Ich begleite dich. Und wenn unser Klotz-am-Bein es möchte, dann kann er auch mitkommen“, sagte Maél scherzend zu Finlay gewandt. Dieser nickte erfreut über die Einladung. „Jadora, ihr wartet, bis wir wieder zurückkommen! Solange wir nicht wissen, wo sich die Höhle befindet, macht es keinen Sinn die Zelte aufzuschlagen.“ Der Hauptmann machte eine ernste Miene, die noch ein paar Augenblicke zuvor von seiner Amüsiertheit über Eleas und Maéls Debatte beherrscht war. Die Drei schritten zur Mitte der Fläche. Von dem Adler war nicht die Spur mehr zu sehen. Finlay, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, konnte sich nun doch eine schwarzseherische Bemerkung nicht verkneifen. „Hoffentlich bewegen wir uns nicht wieder auf einem Gletscher!“ Während Elea unbeirrt weiterschritt, quittierte Maél Finlays Äußerung sogleich mit einem Knurrlaut und einem bösen Blick. Als sie ihr Ziel unversehrt erreichten, forderte Maél Elea auf: „Tu einfach das, was du in deinem Traum gemacht hast. Wir werden sehen, was passiert.“ Sie schluckte einmal mehr einen dicken Kloß in ihrem Hals hinunter. Dann ließ sie sich auf die Knie nieder, schloss ihre Augen und konzentrierte sich auf das Bild des Drachen, das sie in ihrem Kopf hatte. Warum sie das tat, wusste sie nicht. Sie tat es einfach aus einem Instinkt heraus. Dann holte sie mit ihrem Arm, mit dessen Hand sie den Stab umfasst hielt, weit aus und stieß ihn mit aller Kraft in den Boden, bis er durch die weiche Schneedecke hindurch auf harten Untergrund stieß. Kaum hatte der Stab den hartgefrorenen Boden berührt, begann die Erde zu beben. Elea erhob sich schnell und bildete mit den beiden Männern einen Kreis, wobei sie sich gegenseitig an den Händen hielten. Ein dumpfes Grollen hallte plötzlich durch die hereinbrechende Nacht und schwoll immer mehr an. Das Beben der Erde erreichte eine Stärke, bei der sich die beiden Männer und Elea nur noch mühsam auf den Beinen halten konnten. Fest aneinandergeklammert schauten sie angespannt um sich. Von jetzt auf nachher hörte das Beben auf und eine bedrückende Stille löste den ohrenbetäubenden Lärm ab. Diese hielt jedoch nicht lange an. „Da seht! Dort bewegt sich was.“ Finlay zeigte auf einen Berg hinter den beiden. Maél und Elea drehten sich um und sahen es auch: Von ganz oben, von einem der vielen spitzen Gipfel, rutschte langsam die dicke Schneedecke, die, wer weiß wie lange schon dort ruhte, die Felswand hinunter. Es entstanden dicke Risse, die knackende und knirschende Laute von sich gaben. Die Schneemassen, die sich
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