Die Traene des Drachen
hinter ihnen ritt, erwiderte auf Eleas Bemerkung: „Vielleicht musst du die Wärme als einen Hinweis darauf sehen, wie du den Schneeberg überwinden kannst?“ Maél hatte seine Sprache wiedergefunden und entgegnete darauf: „Ach, du weißt es ja noch gar nicht. Gestern Abend hatte unsere Drachenreiterin noch eine zweite Erleuchtung. Sie ist davon überzeugt, dass sie nur wieder eine riesige Woge ihrer magischen Energie erzeugen muss, um die Schneemassen zu überwinden. Du liegst also mit deiner Theorie gar nicht so falsch.“
Von weiter hinten dröhnte plötzlich Jadoras Stimme dumpf nach vorne. „Jetzt reiten wir direkt in das Hochgebirge und nicht mehr in westliche Richtung.“
„ Wenn der Narr noch lauter schreit, dann löst er womöglich eine Lawine aus“, sagte Maél wie zu sich selbst und brachte Arok zum Stehen. Als alle Reiter aufgeschlossen hatten, stieg er ab und schritt zu Jadora. „Danke für den Hinweis, Jadora. Aber das haben wir bereits selbst schon bemerkt. Im Übrigen: An deiner Stelle würde ich mich mit dem Schreien zurückhalten. Wir befinden uns in einem Gebirge mit schneebedeckten Steilwänden. Du weißt hoffentlich, was das bedeutet.“ Jadoras Gesichtsfarbe war mit einem Mal kaum noch von dem Weiß des Schnees zu unterscheiden. „Ja! Ist ja schon gut. Ich habe verstanden. Ihr habt gehört Männer. Nur noch leise Unterhaltungen! – Maél, was machen wir, wenn...“ Weiter kam Jadora nicht, da Maél ihn mitten im Satz unterbrach. „Ich weiß, was du sagen willst. Halte dich mit schwarzseherischen Äußerungen zurück. Ich musste mir dies auch schon vor einer Weile sagen lassen. Das Glück scheint, auf unserer Seite zu sein. Die Schlucht sieht hier genauso aus, wie die in Eleas Traum. Demnach müsste sie uns direkt zu der riesigen Fläche vor dem schicksalhaften Berg führen.“
Sie bewegten sich nur noch in langsamem Schritttempo, um Erschütterungen zu vermeiden. Die Lawinengefahr war einfach zu groß, auch wenn der Winter erst angefangen hatte.
Eleas Ungeduld und Neugier wuchsen von Schritt zu Schritt, sodass sie am liebsten von Arok gesprungen und dem Adler einfach hinterhergerannt wäre. Aber sie wollte nicht noch einmal leichtsinnig sein und mit ihrem unüberlegten Verhalten womöglich das Leben aller in Gefahr bringen.
Die Schlucht war inzwischen so eng, dass sie nur noch hintereinander reiten konnten. Der Adler verschwand von Zeit zu Zeit immer wieder aus ihrem Sichtfeld, da der Streifen Himmel über ihnen sehr dünn geworden war. Nur noch wenig Tageslicht fiel zu ihnen auf den Boden hinunter. Alle richteten ihren Blick auf den Adler in die Höhe, sodass ihnen schon der Nacken vom ständigen Nach-oben-Schauen schmerzte. Plötzlich berührte etwas Kühles und Nasses Eleas Gesicht: Schneeflocken. Auch das noch!
„ Ich glaube, wir haben unser Ziel fast erreicht. Vor uns kann ich einen Spalt erkennen. Ich denke, dass dies der Zugang zu der kreisrunden Fläche aus deinem Traum ist, Elea“, sagte Maél mit zuversichtlicher Stimme.
Elea ließ immer noch nicht den Adler aus den Augen. Er war schon weit voraus geflogen, als er wieder zu einem großen Kreis ansetzte und zu ihnen zurückflog, wobei er immer wieder aus Eleas Blickfeld geriet. „Du kannst jetzt damit aufhören, nach oben zu sehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir gleich unser Ziel erreicht haben. Dann wären wir schon einmal ein Problem los.“ Elea war immer noch nicht in der Lage, ein einziges Wort zu sprechen. Sie war so aufgeregt, wie noch nie. Überall auf ihrer Haut unter den vielen Kleiderschichten kribbelte es. Merkwürdigerweise verspürte sie überhaupt keine Angst vor dem, was sie in der Höhle erwarten würde. Im Gegenteil: Sie war von einer freudigen Erregung ergriffen, die ihr angesichts der bevorstehenden Trennung von Maél völlig absurd erschien. Aber die Empfindung von widersinnigen Gefühlen war inzwischen Teil ihres Lebens geworden, sodass sie dies nicht mehr sonderlich überraschte.
Die herabfallenden Schneeflocken woben einen immer undurchsichtiger werdenden Vorhang. Die Fellkleidung der Reiter und die Pferde waren bereits von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Elea hatte jetzt große Mühe den Adler noch zu erkennen. Doch dies war auch urplötzlich nicht mehr nötig. Die Steilwände links und rechts von der Gruppe waren abrupt zu Ende, sodass sie direkt auf eine riesige, kreisrunde Fläche ritten. An ihrem Rand reihte sich ein Felsen an den anderen. Dieser Anblick ließ sie die Luft
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