Die Tränen der Henkerin
würde er sich an den Wangen hocharbeiten, die aus massivem Holz gefertigt waren und daher weniger unter seiner Last nachgeben würden.
Mit einer Hand legte er nacheinander Messer und Eisenknauf auf die fünfte Stufe. Danach presste er sich mit den Füßen zwischen die Wangen auf Höhe der zweiten Stufe, mit den Händen hielt er sich oberhalb der fünften fest. Er zog die Beine nach, spannte den Körper, löste eine Hand, nahm die Waffen, legte sie weiter oben ab, krabbelte mit den Händen hoch, bis seine Beine fast gestreckt waren. Wieder zog er die Beine nach. Schweiß rann ihm über den Rücken. Er wiederholte die Prozedur noch einmal, dann war er endlich oben.
Auf dem Treppenabsatz verharrte er in der Hocke und lauschte. Atemgeräusche kamen aus Wendel Fügers Schlafkammer, ein Schmatzen, dann setzte leises Schnarchen ein. Aus den anderen beiden Kammern war nichts zu hören, der Schlaf der Frauen war offenbar lautlos. Von Säckingen erhob sich. Mit vier Schritten war er am Bett seines Widersachers. Er schaute auf den Mann hinunter, der auf dem Rücken lag, ihm die Kehle bot und ihm völlig wehrlos ausgeliefert war. Noch konnte er umkehren, noch konnte er fliehen, aber er hatte keine Wahl. Othilia wollte, dass Melisande litt, und er war ihr Werkzeug. Er wog die Waffe in seiner Hand, bat Gott um Verzeihung und schlug zu.
***
Ein Geräusch ließ Melisande aufschrecken. Gertrud! Ich muss nach der Kleinen schauen. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Sie setzte sich auf, tastete nach ihrer Cotte und streifte sie über. Dann stieß sie an das raue Holz des Schemels, und alles fiel ihr wieder ein. Sie war nicht in ihrem Haus in Rottweil, sondern in Sulz. Sie konnte überhaupt nicht hören, ob Gertrud weinte, und sie konnte nicht an ihre Wiege eilen, um sie zu trösten. Aber wovon war sie aufgewacht?
Beunruhigt trat sie an das kleine Fenster und schob den Laden ein Stück weit auf. Eiseskälte schlug ihr entgegen. Erst jetzt bemerkte sie den Wind. In der Nacht waren die Temperaturen gefallen, ein kalter Nordwind rüttelte am Dach des »Lamms« und drang durch die Ritzen und undichten Stellen ins Haus. Fröstelnd zog Melisande die Schultern hoch. Der September war gerade erst angebrochen, und schon jetzt verhießen alle Zeichen einen frühen und strengen Winter: Die Haselnusssträucher trugen ungewöhnlich viele Früchte, die Rauchschwalben hatten sich schon lange im Schlamm der Seen zur Winterruhe begeben, die Gänse hatten das Land früher als üblich verlassen, waren in ihren keilförmigen Formationen Richtung Süden geflogen, um dort in ihren Höhlen zu überwintern.
Ein grauer Streifen am Horizont kündigte den nahenden Tag an. Einen Tag, an dem sie endlich entscheiden musste, wie es weitergehen sollte. Bisher hatte sie gehofft und gewartet, bei jedem Hufschlag aus dem Fenster geschaut in der Erwartung, dass es ein Bote war, der ihr Nachricht aus Rottweil brachte. Dass es womöglich sogar Wendel war, der Irma in seiner Verzweiflung das Geheimnis entlockt hatte und nun kam, um sie heimzuholen. Süße, dumme Träume, die sie davon abhielten, den Tatsachen ins Auge zu blicken.
Melisande schlang die Arme um sich. Sie hatte sogar gehofft, ihr Feind möge sie in ihrem Versteck aufstöbern, damit sie ihn endlich sehen, damit sie ihn endlich bekämpfen konnte. Doch auch das war nicht geschehen. Die letzten beiden Tage waren völlig ereignislos verlaufen.
Der Schrei, der sie geweckt hatte, hallte ihr immer noch in den Ohren. War es der Wind gewesen? Oder ein verendendes Tier? Sie schauderte. Nein, sie durfte nicht länger tatenlos herumsitzen. Sobald es hell war, würde sie auf den Markt gehen und ein paar Besorgungen machen. Sie wusste zwar nicht, wie der nächste Zug ihres Gegners aussehen würde, doch sie wollte für alles gerüstet sein.
***
Wo kamen nur die Schmerzen her? Warum fühlte sich sein Kopf an, als hätte er tagelang gesoffen? Und warum schrien alle durcheinander?
Mühsam öffnete Wendel die Augen einen Spaltbreit – und schloss sie sofort wieder. Das Licht ließ seinen Schädel förmlich explodieren, ihm wurde übel, er rollte sich über die Bettkante und verlor den Halt. Bevor er auf dem Boden aufschlug, ergriffen ihn Hände und beförderten ihn wieder zurück. Er stöhnte.
»Wendel, wach auf! Um Gottes willen, Wendel, komm zu dir!« Aus weiter Ferne hörte er die Worte. Die Stimme seiner Mutter. Wo war Melissa? Warum war sie nicht bei ihm? Schlagartig fiel es ihm ein: Melissa war fort. Er selbst
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