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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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hatte sie aus dem Haus gejagt. Was hatte er nur getan? Er stöhnte erneut, doch als er die Augen zum zweiten Mal öffnete, brannte die Helligkeit nicht ganz so unerträglich und die Welt drehte sich nicht mehr.
    Er hob den Kopf, erkannte Katherina, die auf dem Bett saß, die Augen gerötet, die Wangen tränenüberströmt. Sie hielt ein Leintuch in der Hand, das triefnass war.
    »Was zum Teufel ist los?«, röchelte er.
    Sie schluchzte und presste sich das Tuch vor die Augen.
    Wendel richtete sich auf. Angst verdrängte die Schmerzen und die Übelkeit. Er war jetzt hellwach. »Was ist los?«, schrie er. Ohne ihre Antwort abzuwarten, schwang er die Beine aus dem Bett und wäre fast umgefallen, als er sich aufrichtete. Er sah, dass Antonius bei der Tür stand. Der Leibwächter war leichenblass und biss an einem Finger herum, als wollte er ihn aufessen. Fassungslos blickte Wendel von Antonius zu seiner Mutter.
    Katherina nahm das Tuch vom Gesicht. »Gertrud ist verschwunden«, stieß sie mit tränenerstickter Stimme hervor, bevor sie wieder zu weinen begann.
    Wendels Herz krampfte sich zusammen. Obwohl eine neuerliche Welle Übelkeit ihn überrollte, stürzte er an Antonius vorbei in Selmtrauds Kammer. Die Magd saß auf einem Hocker, der Chirurgicus hantierte an ihrem Kopf herum. Als Wendel eintrat, warf sie sich auf den Boden, umklammerte seine Füße. »Herr, verzeiht mir, ich bin unwert, ich hätte sie besser beschützen müssen.«
    Wendel bückte sich und zerrte sie auf die Beine. »Rede keinen Unsinn! Erzähl mir lieber, was passiert ist! Wer war es? Ist er gefasst? Wo ist meine Tochter?« Seine Stimme überschlug sich.
    Katherina trat hinter ihn, drehte ihn zu sich und nahm ihn in die Arme. »Sie ist weg«, flüsterte sie, als müsste sie etwas aussprechen, das besser nicht ausgesprochen wurde. »Einfach weg. Niemand hat etwas gehört, niemand hat etwas gesehen. Jemand ist heute Nacht in das Haus eingebrochen und hat sie mitgenommen. Dir und Selmtraud hat der Entführer offenbar auf den Schädel geschlagen. Ein Glück, dass ihr nicht schlimmer verletzt seid!« Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. »Das arme Kind«, jammerte sie. »Mein armes, armes Mädchen! Hoffentlich tut er ihr nichts an!«
    Selmtraud brach ebenfalls in Tränen aus. Was für ein Wahnsinn, dachte Wendel. Heulende Weiber, und niemand tut etwas. Er machte sich frei. »Habt ihr die Büttel gerufen? Ist der Rat im Bilde?«
    Katherina nickte. »Sie haben schon die ganze Stadt abgesucht, jedes Haus. Jeden Stein haben sie umgedreht, doch keine Spur von dem armen Kind. Und die ganze Zeit hast du auf dem Bett gelegen wie tot. Mein Gott, Wendel, wir haben gedacht, du wachst nicht wieder auf!«
    Das wäre vielleicht besser gewesen, dachte er. Zuerst Melissa, jetzt Gertrud. Ein scharfer Schmerz fuhr durch seine Brust. Melissa! Was, wenn sie Gertrud geholt hatte? Nein. Das konnte nicht sein, das würde sie ihrer Tochter nicht antun. Andererseits, was wusste er schon von seiner Frau? Sie war eine Fremde, Melisande Wilhelmis aus Esslingen. Melissa Füger hätte niemals ihr eigenes Kind in Gefahr gebracht, aber wozu Melisande Wilhelmis fähig war, das wagte er sich nicht vorzustellen.
    Er wandte sich wieder an Selmtraud, deren Kopf inzwischen fertig verbunden war. »Hast du wirklich nichts gesehen?«
    Sie schluchzte, zögerte, aber Wendel hatte keine Zeit zu verlieren. »Rede, oder ich lasse dich auspeitschen!«, brüllte er so laut, dass selbst der Chirurgicus zusammenzuckte.
    »Es war eine Frau«, flüsterte Selmtraud. Sie war so erschrocken, dass sie aufgehört hatte zu weinen. »Ich habe kurz ihr Gesicht gesehen.«
    »War es deine Herrin?«, donnerte Wendel und trat auf Selmtraud zu.
    »Ich … ich … ich weiß es nicht«, stotterte sie, ihre Zähne schlugen aufeinander. »Es … es war zu dunkel.«
    Verfluchte Weiber! Wendel drehte sich abrupt um, stürzte die Treppe hinunter, riss die Tür auf und stürmte quer über die Straße zum Rathaus. Einige Nachbarn zeigten auf ihn, riefen seinen Namen, aber er achtete nicht auf sie. Vorbei an den Wachen rannte er in den Ratssaal, in dem sich fast alle Ratsherren der Stadt versammelt hatten. Lorentz Weishausen und dessen Vater kamen auf ihn zu. Als Lorentz ihn umarmte, begann Wendel wie im Fieber zu zittern. Die Worte von Irmas Gemahl drangen nur undeutlich zu ihm durch.
    »Wie gut, dass du wieder auf den Beinen bist! Wir haben die ganze Stadt auf den Kopf gestellt, die Tore sind geschlossen, niemand kann

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